Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
zu
spannen, bedurfte es der Kraft eines Erwachsenen. Merthins Bogen war vier Fuß
lang und schlank, doch in jeder anderen Hinsicht glich er dem typischen
englischen Langbogen, der schon so viel schottisches Bergvolk, walisische Rebellen
und französische Ritter in Harnisch ins Jenseits befördert hatte.
    Vater hatte bis
jetzt nie etwas zu dem Bogen gesagt, und nun schaute er ihn sich an, als würde
er ihn zum ersten Mal sehen. »Wo hast du denn den Bogen her?«, fragte er. »Die
sind teuer.«
    »Nicht der hier — er ist zu klein. Ein Bogenmacher hat mir das Holz gegeben.«
    Vater nickte.
»Abgesehen von der Länge ist der Bogen perfekt«, sagte er. »Er ist aus dem
Inneren der Eibe gefertigt, wo Splintholz auf Kernholz trifft.« Er deutete auf
die zwei verschiedenen Farben.
    »Ich weiß«, sagte
Merthin eifrig. Er hatte nicht oft Gelegenheit, seinen Vater zu beeindrucken.
»Das dehnbare Splintholz ist besonders gut geeignet für die Vorderseite des
Bogens, denn es biegt sich wieder in seine ursprüngliche Form zurück, und das
harte Kernholz ist am besten für die Innenseite, denn es drückt wieder zurück,
wenn der Bogen sich nach innen biegt.«
    »Genau«, sagte
Vater. Er gab seinem Sohn die Waffe wieder.
    »Aber vergiss
nicht: Das ist nicht die Waffe eines Edelmannes.
    Die Söhne von
Rittern werden keine Bogenschützen. Gib ihn einem Bauernjungen.«
    Merthin war
geknickt. »Ich habe ihn noch nicht einmal ausprobiert!« Mutter mischte sich
ein. »Lass sie doch spielen«, sagte sie zu ihrem Gemahl. »Sie sind doch noch
Jungen.« »In der Tat«, sagte Vater und verlor das Interesse. »Ob diese Mönche
uns wohl auch einen Krug Bier bringen würden?« »Fort mit euch«, sagte Mutter zu
ihren Söhnen. »Merthin, pass auf deinen Bruder auf.« Vater knurrte.
    »Wahrscheinlich
wird es eher andersherum sein.« Das traf Merthin hart. Vater hatte keine
Ahnung, wie es in Wirklichkeit aussah.
    Merthin konnte sehr
wohl auf sich selbst aufpassen, doch Ralph allein würde zweifelsohne in eine
Keilerei geraten. Allerdings wusste Merthin es besser, als sich mit seinem
Vater in dieser Stimmung auf einen Streit einzulassen, und so verließ er ohne
ein Wort das Hospital. Ralph trottete ihm hinterher.
    Es war ein klarer,
kalter Novembertag, und eine hohe blassgraue Wolkenbank bedeckte den Himmel.
Sie verließen das Kathedralengelände und gingen die Hauptstraße hinunter,
vorbei an Fish Lane, Leather Yard und Cookshop Street. Am Fuß des Hügels
überquerten sie die Holzbrücke über den Fluss, verließen die Altstadt und kamen
in die Vorstadt, die Newtown genannt wurde. Hier führten von Holzhäusern
gesäumte Straßen zwischen Weiden und Gärten hindurch. Merthin ging zu einer
Wiese, die man Lovers‘ Field nannte.
    Dort hatte die
Stadtmiliz Schießstände aufgebaut, Ziele für Bogenschützen, denn auf Befehl des
Königs waren alle Männer verpflichtet, sich nach dem Kirchgang im Schießen zu
üben.
    Dieser Verfügung
musste nicht viel Nachdruck verliehen werden:
    Es bedeutete keine
Härte, sonntags morgens ein paar Pfeile abzuschießen, und gut hundert junge
Männer aus der Stadt warteten bereits darauf, dass sie an die Reihe kamen,
beobachtet von Frauen, Kindern und Männern, die sich selbst als zu
alt zum Schießen oder den Bogen als unter ihrer Würde betrachteten. Einige
hatten ihre eigenen Waffen dabei. Für jene, die zu arm waren, um sich einen
Bogen zu leisten, hatte John Constable billige Übungsbögen aus Eschen- oder
Haselholz machen lassen.
    Es ging zu wie an
einem Festtag. Dick Brewer verkaufte Humpen voll Bier aus einem Fass auf einem
Karren, und Betty Baxters vier heranwachsende Töchter gingen umher und boten
Gewürzbrötchen von ihren Tabletts feil. Die wohlhabenderen Stadtbewohner trugen
Pelzkappen und neue Schuhe, und selbst die ärmeren Frauen hatten ihr Haar
frisiert und ihre Mäntel neu gesäumt.
    Merthin war der
einzige Junge, der einen Bogen dabei hatte, und damit erregte er sofort die
Aufmerksamkeit der anderen Kinder. Sie drängten sich um ihn und Ralph. Die Jungen
stellten neidische Fragen, und die Mädchen schauten entweder bewundernd oder verächtlich
drein, je nach Veranlagung. Eines der Mädchen fragte:
    »Woher hast du
gewusst, wie man so was macht?«
    Merthin erkannte
sie: Sie hatte in der Kathedrale neben ihm gestanden. Sie war ungefähr ein Jahr
jünger als er, schätzte er, und sie trug ein Kleid und einen Mantel aus teurer,
dicht gewebter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher