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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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sich bei jedem als Arbeiter, der
ihn bezahlen wollte. Im Sommer gab es immer Arbeit, doch nach der Ernte, wenn
die kalte Jahreszeit begann, litt die Familie oft Hunger.
    Deshalb musste
Gwenda stehlen.
    Sie stellte sich
vor, wie es wäre, geschnappt zu werden: eine grobe Männerhand, die sie am Arm
packte und unbarmherzig festhielt, während sie sich hilflos wand; eine tiefe,
grausame Stimme, die sagte: »Sieh an, eine kleine Diebin«; dann die Pein und
die Demütigung der Auspeitschung und schließlich, am allerschlimmsten, der
Schmerz und das Entsetzen, wenn man ihr die Hand abhackte.
    Gwendas Vater hatte
diese Strafe bereits erdulden müssen. Sein linker Arm endete in einem
hässlichen, verschrumpelten Stumpf.
    Zwar kam er mit
einer Hand recht gut zurecht; er konnte mit der Schaufel arbeiten, ein Pferd
satteln und sogar ein Netz knüpfen, um Vögel zu fangen. Trotzdem wurde er im
Frühling stets als letzter Tagelöhner eingestellt und im Herbst als erster
wieder entlassen.
    Und das Dorf verlassen
und sich anderswo Arbeit suchen, das konnte er nicht, denn die fehlende Hand
brandmarkte ihn als Dieb, sodass ihn niemand in Lohn und Brot nehmen würde.
Wenn er unterwegs war, band er sich einen ausgestopften Handschuh an den
Stumpf, damit ihm nicht gleich jeder Fremde aus dem Weg ging; doch die Menschen
ließen sich nie lange von diesem Schwindel täuschen.
    Gwenda hatte die
Bestrafung ihres Vaters nicht mit eigenen Augen gesehen — da war sie noch nicht
auf der Welt gewesen —, aber sie hatte es sich oft vorgestellt, und nun
konnte sie nicht anders, als sich immer wieder auszumalen, wie ihr das gleiche
Schicksal widerfuhr. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits die Axt auf ihr
Handgelenk niedersausen, sah, wie sie Fleisch und Knochen durchdrang und ihr
die Hand vom Arm trennte, sodass sie nie wieder angenäht werden konnte. Sie
musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien.
    Die Leute standen
auf, streckten sich, gähnten und rieben sich die Gesichter. Auch Gwenda erhob
sich und schüttelte ihre Kleider aus. Alles, was sie am Leibe trug, hatte zuvor
ihrem älteren Bruder gehört: das wollene Hemd, das ihr bis zu den Knien
reichte, und der Kittel, der an der Hüfte mit einem Hanfseil zusammengebunden
war. Ihre Schuhe hatten einst Schnürsenkel gehabt, doch die Löcher waren
gerissen, die Senkel verschwunden, und so band Gwenda sich die Schuhe mit
geflochtenem Stroh fest. Als sie schließlich ihr Haar unter eine Kappe aus
Eichhörnchenschwänzen geschoben hatte, war sie fertig angezogen.
    Gwenda schaute zu
ihrem Vater; dieser deutete unauffällig zu einer Familie auf der anderen Seite,
einem Paar mittleren Alters mit zwei Söhnen, nur wenig älter als Gwenda. Der
Mann war klein und schmächtig, mit lockigem rotem Bart. Er schnallte sich ein
Schwert um, was erkennen ließ, dass er Soldat oder Ritter war, denn gewöhnlichen
Leuten war es nicht gestattet, Schwerter zu tragen.
    Sein Weib war eine
dünne Frau, schroff und herrisch und mit mürrischem Gesicht. Während Gwenda sie
musterte, nickte Bruder Godwyn respektvoll und sagte: »Guten Morgen, Sir
Gerald, Lady Maud.«
    Nun sah Gwenda
auch, was die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt hatte. Sir Gerald trug am
Gürtel eine Börse, die an einem Lederriemen hing. Die Börse war prall gefüllt.
Sie sah aus, als enthielte sie mehrere Hundert kleine, dünne Silberpennys,
Halfpennys und Farthings, die Währung in England. Das war so viel Geld, wie
Gwendas Pa in einem Jahr verdiente — falls er denn Arbeit fand. In jedem Fall
wäre das mehr als genug, um die Familie bis zur Aussaat im Frühling zu
ernähren. Vielleicht enthielt die Börse sogar Goldmünzen aus fremden Ländern,
Florine aus Florenz zum Beispiel oder Dukaten aus Venedig.
    Gwenda trug ein
kleines Messer in einer Holzscheide an einer Kordel um ihren Hals. Die scharfe
Klinge würde das Lederband rasch durchtrennen, sodass die Börse in ihre kleine
Hand fallen konnte … es sei denn, Sir Gerald spürte etwas und packte sie,
bevor sie die Beute in Sicherheit bringen konnte.
    Godwyn hob die
Stimme, um sich über das Gemurmel im Hospital hinweg verständlich zu machen.
»Um der Liebe Christi willen, der uns Mildtätigkeit lehrt, wird nach dem
Hochamt an Allerheiligen ein Frühstück ausgegeben«, verkündete er. »Bis dahin
gibt es klares Trinkwasser aus dem Brunnen im Hof. Und vergesst nicht, die Latrinen
draußen zu benutzen. Hier drinnen wird
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