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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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heller wurde, doch es gab keinen
besseren Platz, um sie zu verstecken.
    Gwenda schob das
Messer wieder in die Scheide. Jetzt musste sie rasch verschwinden, ehe Sir
Gerald seinen Verlust bemerkte.
    Doch das Gedränge
der Gläubigen, das ihr eben noch geholfen hatte, die Börse unbemerkt an sich zu
nehmen, hinderte sie nun an der Flucht. Sie versuchte, rückwärts zugehen und
sich zwischen den Leibern hindurch zu zwängen, doch noch immer zog es die Leute
nach vorn, so begierig waren sie, einen Blick auf die Gebeine des Heiligen zu
werfen. Gwenda saß in der Falle. Sie konnte sich nicht bewegen, stand noch
immer genau vor dem Mann, den sie bestohlen hatte.
    Eine Stimme sagte ihr ins Ohr: »Alles in
Ordnung?« Es war das reiche Mädchen. Gwenda kämpfte gegen die aufkeimende Panik
an.
    Sie musste
unsichtbar sein. Ein hilfsbereites, älteres Kind konnte sie jetzt am
allerwenigsten gebrauchen. Sie schwieg.
    »Seid vorsichtig«,
sagte das Mädchen zu den Leuten um sie herum. »Ihr zerquetscht ja das arme
kleine Ding!«
    Gwenda hätte sich
am liebsten in Luft aufgelöst. Die Fürsorglichkeit des Mädchens würde noch dazu
führen, dass man ihr die Hand abhackte!
    In dem
verzweifelten Versuch davon zukommen drückte sie dem Mann vor sich die Hände
ins Kreuz und stieß sich nach hinten ab.
    Doch das brachte
ihr lediglich die Aufmerksamkeit Sir Geralds ein.
    »Oh, du armes Ding!
Du kannst nichts sehen, weil du so klein bist, nicht wahr?«, sagte der
Bestohlene mit freundlicher Stimme, und zu Gwendas Entsetzen packte er sie
unter den Armen und hob sie hoch.
    Sie war hilflos.
Sir Geralds große Hand in ihrer Achselhöhle war nur zwei Fingerbreit von der
Börse entfernt. Gwenda drehte sich nach vorne, sodass er nur ihren Hinterkopf
sehen konnte, und schaute über die Menge hinweg zum Altar, wo die Mönche und
Nonnen weitere Kerzen entzündeten und zu Ehren des Heiligen fromme Lieder
sangen. Hinter ihnen drang ein schwacher Lichtschein durch das große
Rosettenfenster an der Ostfassade: Der Morgen brach an und jagte die bösen
Geister davon. Der dämonische Lärm war nun gänzlich verstummt, und der Gesang
schwoll noch immer an. Ein großer, gut aussehender Mönch trat an den Altar.
Gwenda erkannte ihn als Anthony, den Prior von Kingsbridge.
    Er hob die Hände
zum Segen und sagte laut: »Und wieder einmal wurden das Böse und die Dunkelheit
dieser Welt durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Harmonie und
das Licht von Gottes heiliger Kirche verbannt.«
    »Amen!«, dröhnte es
durch die Kathedrale, und alle schlugen das Kreuzzeichen, womit die Zeremonie
endete.
    Gwenda wand sich im
Griff des Ritters, und Sir Gerald verstand und setzte sie ab. Das Gesicht noch
immer von ihm abgewandt, schob Gwenda sich an ihm vorbei und hielt auf den
hinteren Teil der Menge zu. Die Menschen drängten jetzt nicht mehr zum Altar,
und so konnte Gwenda sich zwischen ihnen hindurch zwängen. Je weiter sie nach
hinten kam, desto leichter wurde es für sie, bis sie sich schließlich am großen
Westportal wiederfand, wo ihre Familie bereits auf sie und die Beute wartete.
    Pa schaute sie
erwartungsvoll an, bereit, wütend zu werden, sollte sie versagt haben. Gwenda holte
die Börse aus ihrem Hemd und warf sie ihm zu; sie war froh, das Ding
loszuwerden. Pa fing die Börse auf, drehte sich ein wenig zur Seite und warf
einen verstohlenen Blick hinein. Gwenda sah ihn grinsen. Dann reichte er die
Börse an Ma weiter, die sie rasch in den Falten der Decke verschwinden ließ,
die sie um das Baby gewickelt hatte.
    Das Martyrium war
vorbei, die Gefahr jedoch nicht. »Ein Mädchen hat mich bemerkt«, berichtete
Gwenda und hörte die schrille Angst in ihrer Stimme.
    Zorn loderte in Pas
kleinen, dunklen Augen auf. »Hat dieses Mädchen gesehen, was du getan hast?«
    »Nein, aber sie hat
zu den Leuten gesagt, sie sollten mich nicht totquetschen, und da hat der
Ritter mich hochgehoben, damit ich besser sehen kann.«
    Ma stieß ein leises
Stöhnen aus.
    Pa sagte: »Dann hat
er dein Gesicht gesehen?« »Ich habe versucht, es von ihm weg zu drehen.«
»Trotzdem ist es besser, wenn er dir nicht noch mal über den Weg läuft«, sagte
Pa. »Wir gehen nicht mehr ins Hospital zurück. Wir frühstücken in einer
Schänke.« Ma sagte: »Wir können uns nicht den ganzen Tag verstecken.« »Nein,
aber wir können in der Menge untertauchen.« Gwenda atmete ein wenig auf.
Offenbar hielt Pa die Situation nicht
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