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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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nicht gepisst!«
    Die Mönche und
Nonnen waren sehr streng, was Reinlichkeit betraf. Vergangene Nacht hatte
Bruder Godwyn einen sechsjährigen Jungen dabei erwischt, wie er in eine Ecke
gepinkelt hatte, und daraufhin die gesamte Familie vor die Tür gesetzt. Weil
sie keinen Penny gehabt hatten, um in einem Gasthaus unter zu kommen, hatten
sie die kalte Oktobernacht zitternd auf dem Steinboden im nördlichen Vorbau der
Kathedrale verbringen müssen. Auch Tiere waren verboten. Hop, Gwendas
dreibeiniger Hund, war ebenfalls vor die Tür gesetzt worden. Sie fragte sich,
wo er wohl genächtigt hatte.
    Als alle Lampen
entzündet waren, öffnete Godwyn die große Holztür nach draußen. Die Nachtluft
brannte in Gwendas Ohren und auf ihrer Nasenspitze. Die Gäste, die über Nacht
geblieben waren, zogen die Mäntel um die Schultern und schlurften hinaus. Als
Sir Gerald und seine Familie sich in Bewegung setzten, reihten Ma und Pa sich
hinter ihnen ein, und Gwenda und Philemon folgten ihnen auf dem Fuß.
    Bis jetzt hatte
zumeist Philemon das Stehlen übernommen, doch gestern war er auf dem Markt von
Kingsbridge beinahe gefasst worden. Er hatte einen kleinen Krug mit kostbarem
Öl vom Stand eines italienischen Händlers stibitzt, das gute Stück jedoch zu
Boden fallen lassen, so dass jeder ihn gesehen hatte. Zum Glück war der Krug
nicht zerbrochen, doch Philemon hatte so tun müssen, als hätte er ihn aus
Versehen von dem Stand herunter gestoßen.
    Und noch etwas
setzte Philemons Diebeskarriere ein Ende: Bis vor Kurzem war er klein und
unscheinbar gewesen, wie Gwenda, doch im letzten Jahr war er mehrere Zoll
gewachsen; seine Stimme war tief geworden und seine Bewegungen unbeholfen, als
könne er sich nicht an seinen neuen, größeren Körper gewöhnen.
    Vergangenen Abend,
nach dem Vorfall mit dem Ölkrug, hatte Papa verkündet, Philemon sei nun zu groß
für ernsthafte Diebereien; daher fiele diese Aufgabe fortan Gwenda zu.
    Das war auch der
Grund, weshalb sie fast die ganze Nacht wach gelegen hatte.
    Nun gingen sie
durch die Tür und sahen zwei Reihen zitternder Nonnen, die Fackeln in die Höhe
hielten, um den Weg vom Hospital zum großen Westportal der Kathedrale von
Kingsbridge zu erleuchten. Schatten flackerten am Rande des Fackelscheins. Es
sah aus, als tollten die Geister und Kobolde der Nacht dicht außerhalb des Sichtfeldes
umher und nur die Frömmigkeit der Nonnen hielte sie vom Näher kommen ab.
    Gwenda rechnete
damit, dass Hop draußen auf sie wartete, doch der Hund war nirgends zu sehen.
Vielleicht hatte er ja einen warmen Schlafplatz gefunden. Während sie zur
Kirche gingen, achtete Pa sorgsam darauf, dass sie stets ganz in der Nähe von
Sir Gerald blieben. Gwenda quiekte, als jemand von hinten schmerzhaft an ihrem Haar
zerrte. Wenn das nicht so ein vermaledeiter Kobold gewesen war! Doch als sie
sich umdrehte, sah sie Wulfric, den sechsjährigen Plagegeist aus der
Nachbarschaft. Lachend sprang er aus ihrer Reichweite — geradewegs in die Arme
seines Vaters. Der knurrte: »Benimm dich!«, und gab ihm eine Kopfnuss, worauf
Wulfric in Tränen ausbrach.
    Die Kathedrale war
ein gestaltloser Koloss, der düster und gewaltig über der dicht gedrängten
Menschenmenge aufragte und von dem sich nur die unteren Teile deutlich erkennen
ließen: Bögen und Mittelpfosten wurden durch das unstete Fackellicht in Orange
und Rot getaucht. Die Prozession wurde langsamer, als sie sich dem Eingang des
Gotteshauses näherte, und Gwenda konnte eine Gruppe von Stadtbewohnern
ausmachen, die aus der anderen Richtung kam; es waren Hunderte, vielleicht
sogar Tausende, schätzte Gwenda … obwohl sie nicht sicher war, denn sie
konnte gerade mal bis zehn zählen.
    Die Menschenmenge
schob sich durch die Vorhalle. Das unstete Fackellicht fiel auf die Statuen an
den Gewänden und ließ sie einen zuckenden Tanz aufführen. In den unteren Zonen
gab es finstere Dämonen und schreckliche Untiere. Gwenda sah Drachen und Greife,
einen Bären mit Menschenkopf und sogar einen Hund mit zwei Leibern, jedoch nur
einer Schnauze. Sie riss die Augen auf und schluckte, so schrecklich war das
alles anzuschauen. Da gab es Bestien, die mit Menschen kämpften; sogar einen
Teufel, der einem Mann eine Schlinge um den Hals legte; daneben waren ein
fuchsartiges Untier, das eine Frau an den Haaren zog, und ein Adler, der mit
den Klauen einen nackten Mann aufspießte. Über diesen gottlosen Kreaturen
standen die
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