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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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Menschen.
    »Bist du bereit?«,
fragte Merthin. Caris nickte.
    Er führte sie auf
das Gerüst. Es war ein dürftiges Gebilde aus Seilen und Ästen, dessen Anblick
Caris stets nervös machte, auch wenn sie es nicht laut sagte. Aber wenn Merthin
es erklettern konnte, so konnte sie es auch. Der Wind ließ das gesamte Werk ein
wenig schwanken, und der Saum von Caris' Robe schlug ihr um die Beine wie die
Segel eines Schiffes. Die Spitze war noch einmal so hoch wie der Turm, und der
Aufstieg über die Strickleitern war anstrengend für beide.
    Auf halbem Weg
hielten sie an, um sich auszuruhen. »Die Kirchturmspitze ist sehr einfach«,
sagte Merthin, der nicht um Atem zu ringen brauchte. »Nur ein Rundstabprofil an
den Ecken.« Caris wusste, dass andere Turmspitzen, die sie gesehen hatte, schmückende
Rosetten trugen, Bänder aus farbigem Stein oder Kacheln und fensterartige
Vertiefungen. Die Schlichtheit von Merthins Konstruktion war es, was den
Anschein erweckte, die Turmspitze reckte sich in den Himmel, ohne je zu enden.
    Merthin wies nach
unten. »Ach, schau, was da geschieht!«
    »Ich würde lieber
nicht hinunterblicken … «
    »Ich glaube, da
bricht Philemon nach Avignon auf.«
    Das musste Caris
sehen. Sie stand auf einer breiten Plattform aus Planken, aber dennoch musste
sie sich mit beiden Händen an der senkrechten Stange festklammern, um sich zu
überzeugen, dass sie nicht stürzte. Mühsam schluckte sie und richtete ihren
Blick die Flanke des Turmes entlang auf den Boden tief unter ihnen.
    Der Anblick
freilich war der Mühe wert. Eine Charette, von zwei Ochsen gezogen, stand vor
dem Priorspalast. Eine Eskorte aus einem Mönch und einem Soldaten, beide zu
Pferd, wartete geduldig. Neben dem Wagen stand Philemon, und die Mönche von
Kingsbridge traten einer nach dem anderen vor und küssten ihm die Hand.
    Als sie alle damit
fertig waren, reichte Bruder Sime dem scheidenden Prior eine schwarz-weiße
Katze, und Caris erkannte die Nachkommin von Godwyns Schoßtier Erzbischof.
    Philemon stieg in
den Wagen, und der Kutscher peitschte die Ochsen. Langsam rollte das Gespann
durch das Tor und die Hauptstraße entlang. Caris und Merthin sahen ihm nach,
wie es die Doppelbrücke überquerte und in der Vorstadt verschwand.
    »Gott sei Dank,
dass er fort ist«, sagte Caris.
    Merthin sah hoch.
»Bis nach oben ist es nicht mehr weit«, sagte er. »Bald stehst du höher über
dem Boden als je eine Frau in England vor dir.« Er begann weiter zu klettern.
    Der Wind nahm zu, aber
trotz ihrer Angst fühlte sich Caris großartig. Dieser Turm war Merthins Traum,
und er hatte ihn wahr gemacht. Für Hunderte von Jahren würden Menschen in
meilenweitem Umkreis diese Turmspitze ansehen und denken, wie schön sie doch
sei.
    Sie erreichten den
obersten Rand des Gerüsts und kamen auf die Plattform rings um den Turmknaul,
das äußerste Ende der Spitze. Caris versuchte nicht daran zu denken, dass die
Plattform von keinem Geländer umgeben war, welches verhindert hätte, dass sie
abstürzte. Am Knauf der Turmspitze war ein Kreuz. Vom Boden aus betrachtet
wirkte es winzig, doch jetzt wurde Caris klar, dass es größer war als sie.
    »Am Knauf eines
Turmes ist immer ein Kreuz«, sagte Merthin. »Das gehört sich so. Davon
abgesehen hat man Spielraum. In Chartres wird es von einem Abbild der Sonne
getragen.«
    Caris sah nun, dass
Merthin einen lebensgroßen Engel an den Fuß des Kreuzes gesetzt hatte. Die
kniende Gestalt blickte nicht zum Kreuz hoch, sondern nach Westen über die
Stadt. Als Caris genauer hinschaute, bemerkte sie, dass das Antlitz des Engels
vom Üblichen abwich. Es war klein und rund, eindeutig weiblich und kam ihr mit
seinen zierlichen Zügen und dem kurzen Haar irgendwie bekannt vor.
    Im nächsten
Augenblick begriff sie, dass sie in ihr eigenes Gesicht schaute.
    Sie war
fassungslos. »Das erlauben sie dir?«, fragte sie. Merthin nickte. »Die halbe
Stadt hält dich ohnedies schon für einen Engel.«
    »Das bin ich aber
nicht«, sagte sie.
    »Nein«, erwiderte
er mit dem vertrauten Grinsen, das sie so liebte. »Aber von allem, was sie
kennen, kommst du einem Engel am nächsten.«
    Der Wind frischte
plötzlich auf. Caris packte Merthin. Er hielt sie fest, stand selbstsicher auf
auseinandergestellten Füßen. Der Windstoß erstarb so plötzlich, wie er gekommen
war, doch Caris und Merthin hielten sich weiter in den Armen und standen noch
lange auf dem Gipfel der
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