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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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aus der Scheide.
    In die Stille hinein erklang ein
fürchterlicher Schrei. Gwenda hatte damit gerechnet — Mama hatte ihr erklärt,
was während des Gottesdienstes so alles vor sich ging —, trotzdem erschrak sie
bis ins Mark. Es klang, als würde jemand gefoltert.
    Dann ertönte ein hartes Trommeln, als
schlüge jemand auf eine Metallplatte. Weitere Geräusche folgten: schrilles
Heulen, irres Lachen, ein Jagdhorn, Rasseln, Tierstimmen, eine zersprungene Glocke.
In der Gemeinde begann ein Kind zu plärren; andere fielen ein. Ein paar
Erwachsene lachten nervös. Sie wussten, dass die Mönche diese Geräusche
machten, doch es war eine höllische Kakophonie.
    Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick,
um sich die Börse zu schnappen, dachte Gwenda ängstlich. Alle waren angespannt
und wachsam. Der Ritter würde jede noch so leichte Berührung bemerken.
    Der teuflische Lärm
wurde lauter. Dann kam ein neues Geräusch hinzu: Musik. Zuerst war sie so
leise, dass Gwenda nicht sicher war, ob sie die Klänge wirklich hörte, doch
nach und nach wurden sie lauter: Die Nonnen sangen. Gwenda spürte, wie Spannung
sie erfasste.
    Und dann war es so
weit.
    Gwenda bewegte sich
so lautlos wie ein Schatten und so leicht wie die Luft, als sie sich Sir Gerald
zu wandte. Sie wusste genau, was er trug: eine dicke Wollrobe, an der Hüfte
von einem
breiten, metallbeschlagenen Gürtel gehalten, an dem seine Börse mit einem
Lederband befestigt war. Über der Robe trug er einen bestickten Waffenrock, ein
edles, jedoch abgetragenes Stück mit gelben Knöpfen aus Bein. Er hatte ihn hoch
zugeknöpft, doch zwei, drei Köpfe standen noch offen — entweder aus Nachlässigkeit
oder weil der Weg vom Hospital in die Kirche so kurz gewesen war.
    So sanft und
vorsichtig sie konnte, legte Gwenda eine schmale Hand auf des Ritters Rock. Sie
stellte sich vor, ihre Hand sei eine Spinne, die so leicht und lautlos dahin
huschte, dass Sir Gerald sie unmöglich zu spüren vermochte. Diese Spinnenhand
ließ Gwenda nun vorn über den Rock huschen, dann unter den Rocksaum und an dem
schweren Gürtel entlang, bis sie die Börse ertastete.
    Der Höllenlärm verebbte, während die Musik
immer lauter erschallte. In den vorderen Reihen erhob sich ehrfürchtiges Raunen.
    Gwenda konnte
nichts sehen, aber sie wusste, dass auf dem Altar eine Lampe entzündet worden
war, die eine Reliquie beleuchtete: einen prachtvoll beschnitzten Kasten aus
Ebenholz und Gold, in dem sich die Gebeine des heiligen Adolphus befanden. Als
vorhin das Licht in der Kirche erlosch, war der Kasten noch nicht da gewesen,
doch nun — o Wunder! — stand er dort. Die Menge drängte nach vorn; alle wollten
der heiligen Reliquie nahe sein.
    Als Gwenda zwischen
Sir Gerald und dem Mann vor ihm eingequetscht wurde, hob sie die rechte Hand
und setzte die Messerklinge ans Band der Börse.
    Das Leder war zäh,
und mit dem ersten Streich gelang es ihr nicht, das Band durch zuschneiden. Sie
sägte nach Leibeskräften und hoffte verzweifelt, Sir Gerald möge von der Szene
am Altar so sehr gefesselt sein, dass er nicht bemerkte, was direkt vor seiner
Nase geschah. Gwenda hob kurz den Blick und sah voller Schrecken, dass sie
wieder die Umrisse der Menschen erkennen konnte: Die Mönche und Nonnen zündeten
Kerzen an. Jeden Augenblick würde es deutlich heller werden!
    Gwenda riss kräftig
an dem Messer und spürte, wie das Band nachgab. Sir Gerald knurrte leise. Hatte
er etwas gespürt, oder war es eine Reaktion auf das Spektakel am Altar? Die
Börse fiel und landete in Gwendas Hand, war aber zu groß, als dass das Mädchen
sie hätte fangen können, und drohte ihren Fingern zu entgleiten. Einen
schrecklichen Augenblick lang fürchtete Gwenda, sie fallen zu lassen und
inmitten der Menschenmenge auf dem Boden zu verlieren; dann bekam sie den
Beutel zu fassen und hielt ihn fest.
    Erleichterung
durchströmte Gwenda wie eine Welle.
    Doch noch immer
schwebte sie in großer Gefahr. Ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, jeder
müsse es hören. Rasch drehte sie sich um, sodass sie dem Ritter den Rücken
zukehrte. Noch in der Bewegung stopfte sie die Börse vorne in ihren Kittel, wo
der schwere Lederbeutel jedoch eine verdächtige Wölbung bildete, die ihr über
den Gürtel hing wie der Bauch eines alten Mannes. Gwenda schob die Börse zur
Seite, wo sie sie wenigstens teilweise mit dem Arm verdecken konnte. Zwar wäre
sie da noch immer zu sehen, wenn das Licht
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