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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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Heiligen unter schützenden Baldachinen. Darüber wiederum thronten
die Apostel. Dann, in dem Bogenfeld gleich über der Tür, stand der heilige Petrus
mit seinem Schlüssel, und der heilige Paulus mit einer Schriftrolle in der Hand
schaute betend zu Jesus hinauf.
    Gwenda wusste, dass Jesus die Menschen
lehrte, nicht zu sündigen, und dass Sünder von Dämonen gepeinigt wurden, doch
Menschen machten ihr mehr Angst als Dämonen. Wenn es ihr nicht gelang, Sir
Geralds Börse zu stehlen, würde Pa sie verprügeln. Und schlimmer noch: Dann
hätte ihre Familie nichts zu essen außer Suppe mit Eicheln. Gwenda und Philemon
müssten wochenlang hungern. Mas Brüste würden austrocknen, und das neue Baby
würde genauso sterben wie die beiden davor. Pa würde tagelang verschwinden, und
wenn er zurück kam, hätte er nicht mehr dabei als einen dürren Reiher oder ein
paar Eichhörnchen. Hungrig zu sein war schlimmer, als verprügelt zu werden. Es
tat länger weh.
    Gwenda hatte das
Stehlen erlernt, kaum dass sie laufen konnte: einen Apfel von einem Stand, ein
frisch gelegtes Ei von der Henne des Nachbarn, ein arglos von einem Säufer
liegen gelassenes Messer in einer Schänke. Aber Geld zu entwenden war etwas
anderes. Wenn man sie dabei erwischte, wie sie Sir Gerald seine Börse stibitzte,
würde es ihr nichts nützen, in bittere Tränen auszubrechen und darauf zu
hoffen, dass man Gnade vor Recht ergehen ließ wie damals, als sie der
weichherzigen Nonne die hübschen Lederschuhe gestohlen hatte. Die Börse eines
Ritters zu schneiden war keine lässliche Kindersünde; es war ein
Erwachsenenverbrechen, und dementsprechend würde man sie bestrafen.
    Gwenda versuchte,
nicht darüber nachzudenken. Sie war klein, geschickt und flink, und sie würde
sich die Börse so schnell und lautlos schnappen wie ein Geist …
vorausgesetzt, sie konnte ihr Zittern im Zaum halten.
    Die Kirche war
bereits voller Menschen. In den Seitenschiffen hielten kapuzen verhüllte
Mönche Fackeln, die ein unstetes rotes Licht verbreiteten. Die hohen Säulen des
Hauptschiffs verschwanden in der Dunkelheit des mächtigen Gewölbes. Gwenda
hielt sich dicht bei Sir Gerald, als die Menschenmenge in Richtung Altar
drängte. Der rotbärtige Ritter und seine dünne Frau bemerkten Gwenda nicht, und
ihre beiden Söhne schenkten ihr ebenso wenig Beachtung wie den
Kathedralenwänden. Gwendas Familie ließ sich zurückfallen, und das Mädchen
verlor sie aus dem Blick.
    Das Hauptschiff
füllte sich nun rasch. Gwenda hatte noch nie so viele Menschen an einem Ort
gesehen: Hier ging es geschäftiger zu als am Markttag auf dem grasbewachsenen
Kathedralenvorplatz.
    Fröhlich begrüßten
die Menschen einander. Im Gotteshaus fühlten sie sich vor bösen Geistern
sicher. Ihre Stimmen hallten gespenstisch in dem riesigen Kircheninnern wider
und schienen aus allen Richtungen zugleich zu kommen.
    Dann läutete die
Glocke, und die Menge verstummte.
    Sir Gerald stand
bei einer Familie aus der Stadt. Die Leute trugen Mäntel aus feinem Stoff;
vermutlich waren sie reiche Wollhändler.
    Neben dem Ritter
stand ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren.
    Gwenda schob sich
hinter die beiden, wobei sie versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein,
doch zu ihrem Entsetzen schaute das Mädchen sie plötzlich an und lächelte
beruhigend, als wollte es sagen: Hab keine Angst!
    Am Rand der Menge
löschten die Mönche ihre Fackeln, eine nach der anderen, bis das Innere der
Kirche in völlige Dunkelheit getaucht war.
    Gwenda atmete auf,
fragte sich jedoch, ob das reiche Mädchen sich später an sie erinnern würde.
Das Mädchen hatte sie nicht bloß flüchtig gemustert, wie die meisten Menschen;
sie hatte Gwenda in die Augen geschaut, hatte erkannt, dass sie sich fürchtete,
und sie freundlich angelächelt. Doch es waren Hunderte von Kindern in der
Kathedrale, und in dem trüben Licht konnte das Mädchen sich unmöglich Gwendas
Gesichtszüge eingeprägt haben … oder? Gwenda versuchte, diesen beängstigenden
Gedanken zu verdrängen.
    Unsichtbar in der
Dunkelheit schob sie sich vor und schlüpfte geräuschlos zwischen die beiden
Gestalten. Sie spürte die weiche Wolle des Mädchenmantels auf der einen Seite
und den steiferen Stoff des alten Waffenrocks, den der Ritter trug, auf der
anderen. Jetzt musste sie nur noch den Arm ausstrecken, ein rascher Schnitt — und die Börse gehörte ihr.
    Gwenda griff an ihr
Halsband und zog das kleine Messer
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