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Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt
Autoren: Ken Follett
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verboten, in den Wald zu gehen. Dort gab es
Gesetzlose, Männer und Frauen, die vom Stehlen lebten. Kinder könnte man ihrer
Kleider berauben oder sie zu Sklaven machen, und es gab noch schlimmere
Gefahren, die Eltern nur andeuteten. Und selbst wenn sie solchen Gefahren entkamen,
drohten Kindern bei ihrer Rückkehr Schläge von ihren Vätern, weil sie eine
Regel gebrochen hatten.
    Doch Caris schien
sich nicht im Mindesten davor zu fürchten, und Merthin wollte nicht weniger
mutig wirken als sie. Außerdem hatte die Abfuhr durch den Stadtbüttel seinen
Trotz geweckt. »Also schön«, sagte er. »Aber wir werden dafür sorgen müssen,
dass uns niemand sieht.«
    Caris hatte schon
eine Idee. »Ich kenne da einen Weg.« Sie ging zum Fluss. Merthin und Ralph
folgten ihr. Ein kleiner dreibeiniger Hund humpelte neben ihnen her. »Wie heißt
der Hund?«, fragte Merthin Caris.
    »Der gehört nicht
mir«, antwortete sie, »aber ich habe ihm ein Stück schimmeligen Schinken
gegeben, und jetzt werde ich ihn einfach nicht mehr los.« Sie gingen am
verschlammten Flussufer entlang, vorbei an Lagerhäusern, Anlegestellen und
Kähnen. Unauffällig musterte Merthin dieses Mädchen, das sich so mühelos zu
ihrer Anführerin aufgeschwungen hatte. Sie besaß ein kantiges, entschlossenes
Gesicht, war weder hübsch noch hässlich, und sie hatte den Schalk in den
grünlichen Augen mit den braunen Flecken. Ihr hellbraunes Haar war zu zwei
Zöpfen geflochten, wie es bei den wohlhabenden Frauen Mode war. Ihre Kleider
waren teuer, aber sie trug praktische Lederstiefel und nicht die bestickten
Stoffschuhe, wie Edelfrauen sie bevorzugten.
    Caris wandte sich
vom Fluss ab, führte sie über einen Holzlagerplatz, und plötzlich befanden sie
sich in gestrüppreichem Waldland.
    Merthin wurde
leicht unbehaglich zumute. Nun, da er im Wald war, konnte hinter jeder Eiche
ein Gesetzloser lauern, und er bereute seinen Wagemut; doch er schämte sich zu
sehr für seine Angst, als dass er wieder hätte umkehren können.
    Sie gingen weiter
und suchten nach einer Lichtung, die groß genug zum Bogenschießen war.
Plötzlich sagte Caris in verschwörerischem Tonfall: »Seht ihr den großen
Stechpalmenstrauch da drüben?«
    »Ja.«
    »Sobald wir daran
vorbei sind, hockt euch mit mir nieder, und seid still.« »Warum?«
    »Ihr werdet schon
sehen.«
    Einen Augenblick
später kauerten Merthin, Ralph und Caris hinter dem Busch. Der dreibeinige Hund
saß bei ihnen und schaute Caris hoffnungsvoll an. Ralph wollte eine Frage
stellen, doch Caris brachte ihn mit einem »Pssst!« zum Schweigen.
    Eine Minute später
kam ein kleines Mädchen vorbei. Caris sprang aus dem Gebüsch und packte sie.
Das Mädchen schrie auf.
    »Sei still!«,
befahl Caris. »Wir sind nicht weit von der Straße entfernt, und wir wollen
nicht gehört werden. Warum verfolgst du uns?«
    »Du … Du hast
meinen Hund, und er will nicht wieder zurückkommen!«, schluchzte das Kind.
    »Ich kenne dich …
Ich habe dich heute Morgen in der Kirche gesehen«, sagte Caris mit sanfterer
Stimme zu ihr. »Nun gut, es gibt keinen Grund zu weinen. Wir werden dir nichts
tun. Wie heißt du?«
    »Gwenda.«
    »Und der Hund?«
    »Hop.« Gwenda nahm
den Hund auf den Arm, und er leckte ihr die Tränen ab.
    »Nun, jetzt hast du
ihn ja. Du solltest besser mit uns kommen für den Fall, dass er wieder
weglaufen sollte. Außerdem wirst du allein wohl kaum den Weg in die Stadt
zurückfinden.«
    Sie gingen weiter.
Merthin fragte: »Was hat acht Arme und elf Beine?« »Ich gebe auf«, sagte Ralph
sofort. Das tat er immer.
    »Ich weiß es«,
sagte Caris und grinste. »Wir. Vier Kinder und der Hund.« Sie lachte. »Das ist
gut.«
    Das freute Merthin.
Die Leute verstanden seine Scherze nicht immer, Mädchen fast nie. Einen
Augenblick später hörte er, wie Gwenda es Ralph erklärte. »Zwei Arme und zwei
Arme und zwei Arme und zwei Arme, das macht acht«, sagte sie. »Zwei Beine und
… «
    Sie sahen
niemanden, was gut war. Die wenigen Leute, die rechtmäßig im Wald etwas
verloren hatten — Holzfäller, Köhler, Eisenschmelzer —, arbeiteten heute
nicht, und an einem Sonntag würde man auch keine adelige Jagdgesellschaft
sehen. Demnach würde es sich bei jedem, auf den sie trafen,
höchstwahrscheinlich um einen Gesetzlosen handeln. Allerdings war es ein großer
Wald, der sich über viele Meilen hinweg erstreckte. Merthin war nie so weit gereist,
als dass er sein Ende
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