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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs
Autoren: Barbara Erskine
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Sie schaute genauer hin. Die Schwester der Frau, nach der Titus so lange gesucht hatte. Wie merkwürdig. Die eine so gut, die andere so böse. Sie nickte bedächtig. Die Dualität von Gut und Böse - eine der amüsanteren Ironien des Lebens. Sie warf einen Blick auf das Pergament, das neben ihr auf dem Tisch lag. Es enthielt einen Bericht über den Mann, der in Judäa ein Gott geworden war. Ihre Augen blieben am Zeichen des Fisches am Ende der Schriftrolle hängen. Sie hatte immer geglaubt, das Böse sei unterhaltsamer als das Gute. Deswegen hatte sie den Launen des Kaisers so oft nachgegeben. Aber jetzt vielleicht nicht mehr.
    Der Zauberer wollte diese Frau, diese Jess, finden. Marcia beugte sich wieder vor und blickte in die wirbelnden Schatten in der Schüssel. Diese andere Seherin hatte sie in eine dunkle Schlucht gelockt, hatte das Kind nachgeahmt, das sie
einmal gewesen war, und sie angefleht, mit ihr zu spielen; dann hatte sie sie wieder ins Haus des Blutes gelockt. Jess war der Kinderstimme gefolgt, trotz der Prellungen und Benommenheit, war ein paar Stufen hinuntergefallen, hatte sich den Kopf aufgeschlagen und war in den langen Schlaf gefallen, der so leicht zum Tod werden konnte. Dort würde niemand sie finden. Es war ein Ort, der vor suchenden Augen verborgen blieb, beschützt von den Geistern der Bäume, die ihre Zweige über ihren Kopf schlossen und sie vor der Sonne und dem Mond beschatteten und sie langsam in ihre Welt hinabzogen.
    Plötzlich traf Marcia eine Entscheidung. Sie schloss die Augen und sandte eine Flut von Botschaften aus.
    »Sie ist hier. Irgendwo. Hinter dem Atelier.« Meryn stand da und sah sich hilflos um. Alles war dunkel. »Aber ich sehe nicht, wo. Eine Treppe, die überwuchert ist.« Die anderen drängten sich im Hof um ihn.
    »Sie ist eine Treppe hinuntergefallen?« Steph starrte ihn an.
    »Eine Steintreppe, die nach unten führt. Aber die ist nirgendwo im Inneren. Ich sehe Bäume ringsum.«
    »Ich weiß, wo das ist!« Schon lief Steph am Atelier vorbei zu einer Gruppe von alten Schuppen und Wirtschaftsgebäuden, die dahinterstanden. Dort, am Rand der Wiese, wo der Berg steil ins Tal abfiel, war ein weiterer aus Stein gebauter Viehstall. Die Tür war vor vielen Jahren mit Brettern vernagelt worden. Steph leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Mauer. »Hier unten.«
    Jemand hatte die Tür mit Gewalt geöffnet. Sie hing schief in den Angeln und führte nach unten. Die andere Seite des alten Stalls war eingestürzt, so dass Sternenlicht hereinschien. Innen ging eine Treppe in einen tief unter der Erde liegenden Lagerraum.

    »Jess! Jess! Ich kann sie sehen!« Rhodri stieß Steph aus dem Weg, als der Strahl der Taschenlampe endlich auf sie fiel. »Mein Gott, Jess, fehlt dir etwas?«
    Sie lag zwischen den Wurzeln der Esche, verborgen durch ein Gestrüpp von Holunder und Apfelbäumen. Rhodri sprang die Treppe hinunter und schlang die Arme um sie.
    »Rühr sie nicht an! Beweg sie nicht, bis wir wissen, dass ihr nichts passiert ist!«, schrie Steph und lief Rhodri hinterher. Einen Moment herrschte Stille, während sie beide Jess im Schein der Taschenlampe untersuchten. Sie war leichenblass, wie sie da mit geschlossenen Augen zusammengekauert am Fuß der Treppe lag. Ihre Haut war sehr kalt.
    »Wartet. Lasst mich sehen!« Aurelia war den beiden nachgeeilt, schob sie beiseite, kniete sich neben Jess und griff nach ihrem Handgelenk. »Ich spüre einen schwachen Puls.« Sie berührte kurz die Stirn ihrer Tochter. »Jess, Liebes, hörst du mich?«
    »Hugo?« Jess’ Augenlider flackerten. »Mummy?«
    »Es ist alles gut, Jess. Wir rufen jetzt den Notarzt. Jemand soll eine Decke holen, damit wir sie wärmen können! Schnell!«
    »Rhodri?« Jess’ Augen wanderten von ihrer Mutter zu ihm. Ihre Stimme war sehr schwach.
    Rhodri kniete im Dreck und dem Unkraut auf ihrer anderen Seite. Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Gott sei Dank bist du am Leben. Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
    Jess lächelte. »Das tut mir leid. Wo ist Hugo?«
    »Hugo!« Steph starrte sie an. »Wer ist denn Hugo? Wir hatten mal einen Hund, der Hugo hieß, aber der ist schon vor Jahren gestorben.« Sie eilte bereits wieder die Treppe hinauf, um eine Decke zu holen. »Warum bist du hier heruntergekommen,
Jess? Die Tür ist seit Jahren mit Brettern vernagelt.«
    »Das kleine Mädchen hat mich gerufen.« Ächzend veränderte Jess ein wenig ihre Position. Hugo war dagewesen, das wusste sie ganz
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