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Die Tochter des Königs

Titel: Die Tochter des Königs
Autoren: Barbara Erskine
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alles anders aussah. Ächzend schwang sie die Beine über die Bettkante, in ihrem Kopf drehte sich alles. Wie viel hatte sie am Abend zuvor getrunken? Mühsam stand sie auf und sah sich zufällig im Spiegel. Erschrocken starrte sie sich an. Ihr blondes, schulterlanges Haar war zerwühlt, ihre sonst klaren blaugrauen Augen waren blutunterlaufen und leicht verquollen. Ihr Blick wanderte an sich nach unten, und sie erstarrte vor Entsetzen. Die hübsche neue Bluse, die sie zur Party angezogen hatte, war zerrissen, ihr BH war unter ihre Brüste geschoben, der Rock bauschte sich um ihre Taille. Fassungslos sah sie an sich hinab, strich mit dem Finger über den lilablauen Fleck an ihrem Oberschenkel und den roten Striemen auf ihrem Bauch. An den Armen hatte sie noch mehr blaue Flecke.
    »O mein Gott! Wie ist denn das passiert?«
    Die Worte hingen lautlos im Raum, während sie ihr Spiegelbild anstarrte. Sie taumelte zur Schlafzimmertür, stützte sich am Rahmen ab und schaute ins Wohnzimmer. Auf dem Sofatisch standen zwei Weingläser mit Rotweinresten, die leere Flasche lag unter dem Tisch. Wer immer in der vergangenen Nacht bei ihr gewesen war, hatte keine weiteren Spuren hinterlassen, weder in der Küche noch im Bad. Die Wohnungstür war geschlossen. Mit zitternden Fingern überprüfte sie die Schlösser. Ein Einbruch war es nicht gewesen. Wer immer hier bei ihr gewesen war, hatte sich nicht gewaltsam Zutritt verschafft. Sie musste ihn selbst gebeten haben mitzukommen.
    Sie war auf der Party zum Schuljahresende gewesen, daran konnte sie sich noch vage erinnern. Aber darüber hinaus
an nichts. Was hatte sie dort denn getrunken? Wohin war sie nach der Disco gegangen? Und mit wem?
     
    Die Disco zur Feier des Schuljahresendes war schon in vollem Gang gewesen, als sie angekommen war. In der Turnhalle des Colleges funkelten kreisende Lichter, der Lärmpegel war gigantisch. Jess stand in der breiten Tür, die weit geöffnet war und die feuchte Luft der Sommernacht hereinließ, und hatte nicht die geringste Lust, hineinzugehen. Am liebsten würde sie die Hände auf die Ohren legen, kehrtmachen und davonlaufen, um nicht in die wummernde Masse schwitzender Körper treten zu müssen, die überwältigend nach billigem Parfüm, Aftershave, Tabakrauch, Marihuana, Schweiß und Alkohol stank. Die Organisatoren hatten es nicht geschafft, alle Schüler zu filzen, aber wozu auch? In der Halle wurde sowieso Alkohol ausgeschenkt, und die meisten der Gäste waren ohnehin in einem Alter, in dem sie legal trinken durften.
    »Hallo, Jess!« Aus der wogenden Menge kam jemand auf sie zu. Daniel Nicolson, ihr Fachbereichsleiter, trat auf den asphaltierten Parkplatz vor der Turnhalle und warf ihr ein erschöpftes Lächeln zu. »Für solche Sachen werde ich allmählich zu alt!« Sein schrilles T-Shirt widersprach dieser Behauptung - die Party zum Schuljahresende war das eine Mal im Jahr, dass er sich ohne Anzug am College blicken ließ.
    Jess lachte. »Ich bin schon immer zu alt dafür gewesen, Daniel. Du siehst richtig cool aus.« Sein kurzes mausgraues Haar war zu einer Stachelfrisur gekämmt, seine braunen Augen versteckte er hinter einer Designersonnenbrille. »Ich habe gehört, dass du der Unglücksrabe bist, der bis zum bitteren Ende ausharren muss?«
    »Und die kopulierenden Kids trennen darf, genau!« Er warf einen Blick zum Himmel. »Es sei denn, ich kann jemand
anderen überreden, so lange zu bleiben. Darf ich dir was zu trinken holen?« Er schob sich die Brille auf den Kopf.
    Sie nickte. Der Lärm, der zur Tür herausschallte, war ohrenbetäubend, es war sinnlos, sich dagegen zu wehren. Wie es erst innen in der Halle sein würde, wollte Jess sich gar nicht ausmalen, aber sie hatte versprochen zu kommen, und sie hatte auch jemandem einen Tanz versprochen. Ashley.
    Ash war ihr vielversprechendster Schüler seit vielen Jahren, der wohl in jedem Fach die beste Note bekommen würde. Sie hatte unendlich viel Zeit und Mühe in diesen jungen Jamaikaner investiert. Und jetzt sah sie ihn auch in der Ferne am Mischpult, wo er die Lautstärke noch mehr aufdrehte. Sie brauchte sich nur zu vergewissern, dass er sie tatsächlich sah, anerkennend den Daumen zu heben und mit den Achseln zu zucken zum Zeichen, dass sie nicht auf den Tanz bestand - wobei Tanzen in dem Gedränge ohnehin fast unmöglich war -, dann konnte sie wieder gehen.
    Während Daniel in den Tiefen der Turnhalle verschwand, kam ein anderer Kollege zu ihr. »Hallo, Jess!« William Matthews
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