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Die Kälte in dir (German Edition)

Die Kälte in dir (German Edition)

Titel: Die Kälte in dir (German Edition)
Autoren: Oliver Kern
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Prolog
    Der Alte war noch dicker geworden. Umständlich quälte er sich aus seinem teuren Mercedes-Geländewagen.
    Beinahe zwanzig Jahre war es her, dass er den Mann zuletzt gesehen hatte. Und nun diese zufällige Begegnung.
    Er selbst blieb im Auto sitzen, denn er wollte nicht in die Verlegenheit kommen, entdeckt zu werden. Er verspürte noch immer den Drang, sich vor ihm zu verstecken. Selbst nach dieser langen Zeit. Das war beunruhigend, dabei musste er kaum befürchten, wiedererkannt zu werden. Zu viel war seither geschehen, und die Zeit hatte auch sein Äußeres neu modelliert.
Mit den Händen eines irrsinnigen, im Absinth- und Drogenrausch arbeitenden Bildhauers.
    Der Motor lief. Die Heizung war bis zum Anschlag hochgedreht. In die Kälte hinauszugehen war ihm zuwider, obwohl die Blase drückte. Wenn er sich zusammennahm, reichte es noch bis nach Hause. Das bisschen Harndrang war nichts im Vergleich zu dem, was er sonst tagtäglich zu ertragen hatte.
    Er griff nach dem Fläschchen mit Augentropfen in der Mittelkonsole und beträufelte damit die brennenden Augäpfel. Nach zweimaligem Blinzeln war das Bild wieder scharf. Er drückte seine Wirbelsäule gegen den beheizten Ledersitz.
    Der Dicke hatte endlich beide Füße auf dem Asphalt und zog sich am Türholm in die Senkrechte. Wie alt mochte er jetzt sein? Um die siebzig? Das feiste, gerötete Gesicht wirkte auf die Entfernung faltenlos. Seine Gestalt war nach wie vor imposant, wenngleich der Alte ihm früher größer vorgekommen war. Größer, Furcht einflößender. Ja, damals hatte er Angst vor diesem Mann gehabt.
Und heute?
Das Alter mochte den Dicken gekrümmt haben, aber womöglich hatte sich auch mit zunehmendem Abstand die Perspektive geändert. Der Erinnerung war nicht immer zu trauen.
    Kurz sah der Dicke zu ihm herüber, doch es war bereits zu dunkel, als dass er mehr als einen Schatten hinter dem Steuer hätte erkennen können. Er hingegen stand unter einer der Straßenlampen, die den Rastplatz beleuchteten. Der Maßanzug spannte um seinen Ranzen, trotzdem streckte er den Rücken, als wolle er beweisen, dass die Qualität und Verarbeitung des edlen Zwirns seine Körpermasse im Zaum halten konnte. Watschelnd machte er sich auf den Weg zu dem Toilettenhäuschen.
    Es war nicht nur Hass, den er fühlte, gestand er sich ein, während er dem Alten nachblickte. Es war Neid! Vor allem Neid.
    Dieses dicke Arschloch besitzt von allem zu viel, selbst von dem, was ich am allernötigsten brauche.
    Seine Finger krampften sich um das Lederlenkrad, während dieser kalte Gedanke ihn durchströmte. Er beschloss, den Mann zu töten. Nicht jetzt und hier auf dem Rastplatz an der Autobahn. Später. Es bedurfte keiner Eile. Das Verlangen danach würde anhalten wie die fortdauernde Kälte. Genauso wie der Hass und jede andere erdenkliche Abneigung. Er wusste, wo der Dicke wohnte.

1
    Noch bevor Karl Mezger über den Hof ging, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Trotzdem benötigte er die halbe Distanz bis zur Scheune, ehe er den Grund für die schleichende Unruhe erkannte. Die Hühner scharrten und pickten in einer Ecke des Innenhofs, die sie sonst tunlichst mieden. Das konnte nur bedeuten, dass der Hund nicht in seiner Hütte lag.
    Mezger bahnte sich einen Weg durch das verhalten protestierende Federvieh und beugte sich in den Verschlag. Aus dem dunklen Loch stank es nach Hund. Er zog an der Kette und angelte das leere Halsband hervor.
    Der Köter hat es tatsächlich geschafft, sich das Ding über den Kopf zu streifen
, dachte er mit einer gewissen Anerkennung.
    Ihm war aufgefallen, dass das Gliederhalsband in letzter Zeit recht locker saß. Der Hund war schon alt und in den vergangenen Wochen deutlich abgemagert. Unter dem einst schwarzbraun glänzenden Fell waren nun die Rippen zu erkennen. Er fraß nicht mehr so viel wie früher. Das mochte an den heißen Temperaturen liegen, das war bei Mezger selbst nicht anders. Die Hitze vertrieb den Appetit, weshalb er sich bislang nicht groß den Kopf darüber zerbrochen hatte.
    Wer viel säuft, hat weniger Hunger.
    Warum sollten sich Mensch und Tier da groß unterscheiden? Es war jedoch nicht zu erwarten gewesen, dass die Töle auf ihre alten Tage stiften ging.
    Karl Mezger löste das Halsband von der Kette und ging damit zur Hofeinfahrt. Er trug nur ein Unterhemd und darüber die Latzhose, die er in der Milchküche vom Haken genommen und übergestreift hatte. Seine nackten Füße steckten in alten, verdreckten Gummistiefeln, aus
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