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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel
Autoren: Richard Dübell
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flüsterte Bruder Tomáš.
    Plötzlich drangen das Gestammel Buhs, das wie üblich niemand verstand außer Pavel, und Pavels helle Stimme, die noch schriller war als sonst, an Martins Ohren. Pavels Stimme haspelte: »Da ist noch jemand am Leben.«
    Im nächsten Moment hörte er das Greinen des Neugeborenen.
    4
    Der Gottesdienst zur Komplet stand unter dem Eindruck des Geschehens vom Tag. Nicht alle Anwesenden zitterten allein wegen der Kälte der Novembernacht, die von den bloßen Dachsparren auf die kleine Kongregation heruntersank. Prior Martin hatte zum Beginn des Stundengebets die Versikel »O Gott, komm mir zu Hilfe!« ausgewählt. Sie schienen mehr Bedeutung zu haben als sonst – und es war weniger Hoffnung zu spüren, dass Gott auf den Hilferuf antworten würde. Die Worte der Psalmen, die darauf folgten, wogen ebenfalls schwerer als gewöhnlich: Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott, der du mich tröstest in Angst! und: Lobet den Herrn, alle Knechte, die ihr steht des Nachts im Hause des Herrn! und: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe! Ein oder zwei Brüder weinten offen, und das Gesicht des Priors war das eines Mannes, der an kein Entrinnen vor dem Höllenfeuer glaubt. Pavel gab es bald auf, unter die Kapuzen der Mönche um ihn herum zu spähen; was er sah, ließ seine Eingeweide vor Angst gefrieren. Prior Martin stimmte selbst den Lobgesang an; doch seine Stimme klang falsch, und er brach nach nur einer Strophe ab. Dann schlug er die Bibel auf, starrte auf die Seiten, klappte sie wieder zu und räusperte sich.
    »Tun wir, wie der Prophet uns befiehlt«, sagte er. » Custodiam vias meas, ut non delinquam in lingua mea . Ich will auf meine Wege achten, damit ich mich mit meiner Zunge nicht verfehle. Ich stelle eine Wache vor meinen Mund, ich verstumme, ich demütige mich und schweige sogar vom Guten.«
    »Amen«, sagten die Brüder. Pavels Gedanken holten unwillkürlich nach, was er in der Zeit vor dem Beginn seines Noviziats so oft gehört hatte: Regula Sancti Benedicti, Caput VI: De taciturnitate . Von der Schweigsamkeit.
    »Was zeigt uns der Prophet? Man soll der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar auf gute Gespräche verzichten. Umso mehr müssen wir von bösen Worten lassen. Mag es sich also um gute und aufbauende oder um schlechte und unheilbringende Worte handeln: dem vollkommenen Jünger ist nur selten das Reden erlaubt wegen der Bedeutung der Schweigsamkeit. Steht es doch geschrieben: Bei vielem Reden wirst duder Sünde nicht entgehen!, und: Tod und Leben stehen in der Macht der Zunge!«
    Der Prior schien jeden Einzelnen von ihnen zu mustern. In der langen Stille hörte Pavel das Räuspern und Atmen der kleinen Gemeinschaft. Er fühlte den Blick des Priors auf sich und versuchte genug Mut zu sammeln, ihm zuzulächeln und ihm damit zu bedeuten, dass – ganz gleich was auch geschehen war oder noch geschehen würde – Prior Martin im Herzen des Novizen Pavel immer den Platz des weisesten, frömmsten und besten Menschen auf der Erde einnehmen würde. Als er endlich wagte, den Kopf zu heben, war der Blick des Priors längst weitergewandert.
    Der Prior holte Atem, doch statt das Nunc dimittis zu singen, sagte er: »Nun lass, Herr, Deinen Knecht in Frieden scheiden. Meine Augen haben heute das Werk des Bösen betrachten müssen, aber ich weiß um das Heil, das Du vor allen Völkern bereitet hast.«
    Die Gemeinschaft erhob sich von den Knien und machte sich still auf den Weg aus der Kirche. Pavel schlurfte mit Buh an seiner Seite hinterher. Die Botschaft Prior Martins war klar bei ihm angekommen: dass über die Tragödie des heutigen Tages Stillschweigen zu bewahren war. Indem er das Vorkommnis nicht erwähnte, sondern nur die Ordensregel rezitierte, schien er bereits den ersten Schleier des Vergessens darüber gebreitet zu haben. Das Massengrab, das den ganzen Nachmittag lang in einer Ecke des Mönchsfriedhof geschaufelt worden war, würde eine weitere Stufe des Vergessens bedeuten. Er fragte sich, ob die getöteten schwarzen Mönche ebenfalls hineingelegt werden würden, und mit einer Art Schock wurde ihm klar, dass Prior Martin befohlen haben könnte, auch das lebende Neugeborene dort mit seiner toten Mutter zu begraben. Er blickte auf und sah plötzlich das grimmige Gesicht Bruder Tomáš’ vor sich.
    »Der Vater Superior wünscht dich zu sprechen«, sagte er. »Dich und deinen Freund.«
    Die Furcht schoss in Pavel hoch und machte seinen Mund trocken. Nicht einmal in all
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