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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel
Autoren: Richard Dübell
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Opfer. Er schluckte und versuchte krampfhaft, nicht in das zerstörte Gesicht zu blicken; er richtete seinen Blick auf das dunkle Kuttenbündel beim Tor. Die Wasserlachen glänzten im Sonnenlicht, die Blutlachen waren stumpf wie Stellen geschundener Erde. Die Axt des Kustoden blitzte; der letzte Rest des Schauers hatte das Blut von der Klinge abgewaschen, und sie sah aus, als wäre sie nie benutzt worden. Martin fixierte die Waffe und ertappte sich dabei, wie er betete, alles möge eine Wahnvorstellung gewesen sein, doch er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass seine Hoffnung eitel war. Er dachte an die Erscheinung, die er gesehen zu haben meinte, das Kind, das plötzlich an der Stelle stand, an der der verrückt gewordene Kustode zusammengebrochen war. Die Augen des Mannes waren offen; sie schienen dorthin zu starren, wo Martin das Kind gesehen zu haben glaubte. Es schauerte ihn erneut. Er wollte sich bücken, um dem Toten die Augen zu schließen, aber die Kraft dazu fehlte ihm. Ein Kloß saß in seiner Kehle und würgte ihn.
    »Christus erbarme Dich seiner«, flüsterte er.
    »Der Herr erbarme sich unser aller«, sagte eine leise Stimme an seiner Seite. Bruder Tomáš starrte gleich ihm auf den Toten hinunter.
    »Wir tun des Teufels Werk«, sagte der alte Mann.
    »Nein, wir behüten die Welt davor.«
    »Nennst du das behüten, Vater Superior? Warum haben wir nicht diese unseligen Frauen behütet?«
    »Manchmal wiegt das Wohl aller mehr als das Wohl einiger weniger«, sagte Prior Martin und glaubte selbst nicht daran.
    »Der Herr sagte zu Lot: Gehe hin und bringe mir zehnUnschuldige, und ich will um ihretwillen alle Sünder verschonen.«
    Martin schwieg. Er musterte das entstellte Gesicht des Toten auf dem Boden, die Spitze des Bolzens, der aus seinem weit aufgerissenen Mund ragte. Die Tränen in seinen Augen brannten.
    Tomáš kniete plötzlich nieder und drückte dem Toten die Lider zu. Er fuhr in den Halsausschnitt seiner Kutte und zog eine glitzernde Kette hervor. Das Ende baumelte lose in Tomáš’ Fingern.
    »Das Siegel«, sagte Prior Martin. »Er hat es verloren. Vielleicht war das der Grund, warum er …«
    Tomáš sah aus seiner knienden Stellung zu Martin hoch.
    »Es gibt nichts, was dies hier rechtfertigen könnte«, sagte er. »Weder seinen Tod, noch den des Bruders, der ihn aufzuhalten versuchte, noch den der Frauen und Kinder.« Er gestikulierte zum Klostergebäude. »Und auch nicht den des Mannes dort unten in den Gewölben.«
    »Er wollte den Codex stehlen«, sagte Martin.
    »Er hätte ihn niemals von hier fortbringen können.«
    »Was ich befohlen habe, diente dem Schutz des Codex und dem Schutz der Welt vor ihm.«
    Tomáš schüttelte den Kopf. »Vater Superior, ich werde für dich beten.«
    Ein Schluchzen entfuhr Martin, noch bevor er es unterdrücken konnte. Er war sich plötzlich sicher, verdammt zu sein und seine unsterbliche Seele der Hölle ausgeliefert zu haben. Wieder wallte der Gedanke in ihm auf: Ich habe es in Deinem Dienst getan, o Herr!, und er war noch weniger tröstlich als zuvor. Tomáš’ Gesicht war gleichzeitig steinern und mitleidig. Martin wusste, dass er nun ein für alle Mal außerhalb der Gemeinschaft stand. Er mochte ihr Oberer sein, und sie mochten ihm den Gehorsam leisten, den die Ordensregel ihnen vorschrieb, aber er würde nie mehr zu ihnen gehören.Es hat mich berührt, dachte er voller Selbstekel. Es liegt so tief in all den Truhen, die es verstecken, und hinter all den Ketten, die es fesseln, und doch hat es mich berührt. Er fragte sich, ob einer seiner Vorgänger jemals einen ähnlichen Gedanken gehabt hatte, und erinnerte sich an die Chroniken, die sie hinterlassen hatten. Keine Spur von Selbstzweifel – und kein einziger Hinweis, dass jemals einer von ihnen gezwungen gewesen wäre, die Kustoden so einzusetzen, wie es ihr Schwur vorsah. Sie waren gemeinsam alt geworden in ihrem Dienst, die Klosteroberen und die Kustoden, beschirmt von der immer kleiner werdenden Gemeinschaft der anderen Mönche um sie herum und verborgen in dem zerfallenden Kloster hier am Rand der christlichen Zivilisation. Er war sogar von seinen Vorgängern getrennt; ein Mann ganz allein, der zugleich wusste, dass er nicht anders hatte handeln können und sich nichts sehnlicher wünschte, als anders gehandelt zu haben. Er starrte mit aufgerissenen Augen auf Bruder Tomáš nieder und wusste nicht, dass die Tränen über seine Wangen liefen.
    »Gott erbarme sich deiner«,
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