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Am Ufer der Traeume

Am Ufer der Traeume

Titel: Am Ufer der Traeume
Autoren: Thomas Jeier
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ERSTES BUCH
IRLAND
    »In vielen Gegenden saßen geplagte Menschen auf den Zäunen ihrer verfaulten Gärten, wrangen ihre Hände und beklagten die Zerstörung, die sie ohne Nahrung zurückgelassen hatte.«
    Father Matthew, 1846
    1
    An diesem Morgen verlor Molly ihren Glauben an einen gerechten Gott. Nur ein zorniger Schöpfer, der sich von Irland und seinen Menschen abgewandt hatte, konnte solches Unglück über ihre Heimat bringen. Wie dunkler Nebel, der alles zu ersticken drohte, breitete sich diese unheilvolle Plage aus, vernichtender als der Schwarze Tod, der vor einigen Jahrhunderten in Europa gewütet und ganze Landstriche entvölkert hatte, tödlicher als alle Krankheiten, die man sich vorstellen konnte. Nicht seit den sieben Plagen in der Offenbarung des Johannes war eine solche Strafe über die Menschen hereingebrochen.
    Verstört stolperte sie über den Acker hinterm Haus. Alle paar Schritte grub sie eine Kartoffel aus, brach sie auf und starrte auf die schwarzen Flecken in ihrem Inneren, ein sicheres Zeichen dafür, dass die gefürchtete Fäule zurückgekehrt war. Ihre gesamte Ernte war vernichtet, nicht eine einzige gesunde Kartoffel lag in den Erdfurchen, so angestrengt sie auch danach suchte. Nicht auf ihrem Acker und nicht auf den Äckern ihrer Nachbarn. In ganz Irland war in diesem Sommer keine gesunde Kartoffel gereift. Das Todesurteil für Tausende von hilflosen Menschen, wenn nicht ein großes Wunder geschah.
    Erschöpft sank sie zu Boden. Sie ließ sich selten entmutigen, war nach dem Verschwinden ihres Vaters als Erste wieder auf dem Getreidefeld gewesen, um die Ernte des englischen Landbesitzers einzuholen, hatte sich nicht einmal von einer schweren Erkältung unterkriegen lassen, die sie während des letzten Winters heimgesucht hatte. Sie würde nicht sterben, hatte sie sich eingeredet, nicht jetzt, und neben ihren täglichen Gebeten auch ein ernstes Wort an ihren Schöpfer gerichtet: »Ich bin noch nicht bereit, o Herr! Ich habe mich bemüht, ein sündenfreies Leben zu führen, und täglich zu dir gebetet, und du hast mich sicher nicht auf die Erde geschickt, damit ich ihr schon nach wenigen Jahren und ohne etwas erreicht zu haben wieder den Rücken kehre. Du hast uns den Vater genommen, das haben wir in stiller Demut ertragen, aber damit sollte es auch genug sein. Ich will meiner Mutter und meiner Schwester helfen, die schwere Prüfung, die du uns aufgebürdet hast, zu bestehen, und ich will ein sinnvolles Leben führen und etwas erreichen. Ich muss wieder gesund werden, o Herr, und ich hoffe doch sehr, dass du mir dabei hilfst!«
    Der Herr hatte sie tatsächlich erhört, obwohl er ihre forsche Sprache sicher nicht gutgeheißen hatte, und das Fieber aus ihrem Körper vertrieben. Sie war wieder gesund geworden. Doch die Prüfung war noch schwerer ausgefallen, als sie befürchtet hatte, und nicht einmal eine furchtlose junge Frau wie sie konnte die Tränen zurückhalten, als ihr bewusst wurde, dass die Kartoffelfäule ein zweites Mal ihre Ernte vernichtet hatte. Wie konnte Gott so etwas zulassen? Was bewog ihn, ein ganzes Volk gläubiger Menschen in den Tod zu schicken? Eine zweite Kartoffelfäule würde noch mehr Opfer fordern als die Plage im letzten Jahr und vor den Häusern und in den Straßengräben würden Tausende von Leichen liegen. Sie schluckte ein paarmal heftig, als sie an die vielen toten Kinder dachte, die sie im vergangenen Jahr gesehen hatte.
    Die Katastrophe hatte sich schon vor einigen Wochen angedeutet, als sie die ersten schwarzen Blätter auf dem Acker bemerkt hatten. So hatte es auch vor einem Jahr begonnen, im Sommer 1845, nur hatte damals noch niemand gewusst, welche verheerenden Auswirkungen die Kartoffelfäule haben würde. Die gesamte Ernte des Landes hatte die Plage zerstört, ein Unglück gewaltigen Ausmaßes, das unzählige Menschen in den Hunger und den Tod getrieben hatte. Sie lebten von Kartoffeln, hatten selten etwas anderes gegessen, konnten sich weder Fleisch noch Geflügel leisten. Kartoffeln kosteten nichts. Das wenige Getreide, das sie anbauten, und das Fleisch von ihren Schweinen forderte der englische Besitzer ihrer Farm als Pacht. In regelmäßigen Abständen tauchte ein Mittelsmann von Sir Robert Bourke bei ihnen auf und kassierte. Nicht genug, wie er bei seinem letzten Besuch betont hatte.
    Sie hatten Glück gehabt, anders als viele ihrer Nachbarn, die keinen Penny gespart hatten und ihre Farm verlassen mussten. Einige waren in die Armenhäuser
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