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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel
Autoren: Richard Dübell
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stöhnte vor Entsetzen. Wie hatte das passieren können, nach all den Jahren, in denen die Kustoden ihren Wert als Wächter der Christenheit bewiesen hatten? Doch er wusste genau, wie es hatte passieren können – noch niemals in all der Zeit hatte jemand den Kustoden den Befehl gegeben, einen Menschen zu töten. Er, Prior Martin, war der Erste. Die Augen des Schützen über der Rinne der Armbrust waren weit aufgerissen. Die Graupel prasselten in sein Gesicht.
    »Drück ab!«, schrie Martin.
    Die Augen des Schützen zuckten, und seine Blicke klammerten sich an ihn. Ihr Ausdruck traf Martin wie ein Schlag. Er wusste, dass er eine weitere Seele zerstörte, und er wusste, dass er keine Wahl hatte. Der Rasende hatte das Tor fast erreicht und wirbelte die Axt.
    »Drück ab!«
    Die Armbrust löste mit einem Knall aus. Martins Kopf flog herum. Der Bolzen hatte sein Ziel schon erreicht, bevor er seinen Blick fokussieren konnte. Der Rasende fiel zu Boden. Für einen Augenblick glaubte Martin, ein Kind dort stehen zu sehen, wohin der Wahnsinnige gelaufen war, aber als er blinzelte, war es verschwunden. Es war unmöglich, in dem Flirren etwas Genaues zu erkennen. Eine kalte Hand strich Martin über den Rücken, als der Gedanke in ihm emporstieg, er habe vielleicht einen Blick auf die Seele des Getöteten geworfen, bevor diese sich auf den Weg gemacht hatte. Er erschauerte und bekreuzigte sich. Langsam wandte er sich um.
    Die Armbrust war immer noch erhoben. Die Augen des Schützen blinzelten krampfhaft. Als Martin die Hand hob und dann die Waffe langsam nach unten drückte, verstärkte sich das Blinzeln, und die Augen begannen zu schwimmen. Der Graupelschauer ließ so plötzlich nach, wie er begonnen hatte. Die Stille, die ihm folgte, schien aus dem verschmierten Boden des Klosterhofs aufzusteigen. Er spürte die Blicke Pavels und der Kustoden. In den Geruch nach Kälte und nasser Erde mischte sich der von frischem Blut. Martin wusste, dass er etwas tun musste, wenn er nicht zulassen wollte, dass die Einrichtung der Kustoden hier und heute endete, doch er hatte das Gefühl, durch seinen Befehl über einen Abgrund geschritten zu sein, über den zurückzukehren für einen Menschen unmöglich war. Etwas in ihm rief entsetzt: Herr im Himmel, hilf mir, ich habe es doch nur für Dich getan und um die Menschen zu schützen!
    »Kustoden!«, schrie er. Die fünf Männer in den schwarzen Mönchskutten zuckten zusammen. »Kustoden! Was ist eure Aufgabe?«
    Sie sahen ihn an. Ihre Münder bewegten sich lautlos.
    »Genau!«, schrie Martin. »Und was tut ihr stattdessen?«
    Der Mönch mit der Armbrust versuchte etwas zu sagen. Er deutete auf das Schlachtfeld.
    »Wozu seid ihr ausgewählt worden?«
    Der Mönch mit der Armbrust stammelte etwas.
    »Eure Aufgabe ist es, die Christenheit zu schützen. Die hier könnt ihr nicht mehr schützen, sie sind tot! Zwei eurer Brüder sind ebenfalls tot. Eure Gemeinschaft ist zerbrochen, der Schutzwall ist zerstört, das Verderben kann von hier aus in die Welt sickern! Geht zurück an eure Aufgabe! Erinnert euch an euren Schwur!«
    Langsam kehrte so etwas wie Leben in die glasigen Augen der Männer zurück. Sie sahen sich an. Sie sahen Martin an.
    »Der Herr hüte und beschütze euch«, flüsterte Martin.
    Sie wandten sich wortlos um und schlüpften zurück in den Klosterbau. Einer nach dem anderen verschmolz mit der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes, die umso schwärzer wirkte, je mehr sich die Sonne oben am Himmel einem Loch in den dunklen Wolken näherte und das Licht zu gleißen begann. Als Martins Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, in die er blickte, sah er Bruder Tomáš jenseits der Türschwelle stehen. Das zerklüftete Gesicht des alten Tomáš war unverwandt auf ihn gerichtet. Martin wurde bewusst, dass er vor der Schlachtszene stand, als wäre er dafür verantwortlich. Und in gewisser Weise bin ich das auch, dachte er. All diese Frauen und Kinder sind von einem Wahnsinnigen ermordet worden, doch wenn ich einst vor dem Richter stehe, werden ihre Seelen gegen mich gewogen. – Er fühlte eine Angst, die ihm übel werden ließ, und kämpfte darum, sich nichts anmerken zu lassen. Tomáš’ Gesicht war wie aus einemaltersdunklen Knochen geschnitzt. Er sah, wie der alte Mönch die Lippen bewegte, und ohne sie hören zu können, wusste er, was seine Worte waren: »Ihr Blut kommt über dich, Vater Superior.«
    Martin wandte sich ab und stolperte in den Hof hinaus, vorbei an dem ersten
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