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Die Teilung des Paradieses

Die Teilung des Paradieses

Titel: Die Teilung des Paradieses
Autoren: Michael Heidenreich
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Menschen in seinem Leben sah, er konnte sich noch gut erinnern, war er eher erstaunt als betroffen.
    Es war eine alte Frau in dem Krankenhaus, in dem er als Student die Böden wischte, um sein karges Stipendium aufzubessern. Es war so etwas wie eine Freundschaft entstanden. Zwischen ihm, dem jungen Studenten und der alten Frau. Sie war geistig völlig intakt, aber schwer bettlägerig. Er fing seine morgendliche Wischrunde Punkt sechs Uhr bei ihr im Zimmer an. Zum Einen, weil es das erste Zimmer am Ende des langen Flures war und zum Anderen, weil sie die einzige Patientin war, die sich nie beschwerte über die morgendliche Unruhe. Sich nie beklagte über das zeitige Wecken. Sie machte ihre Witze mit ihm und er mit ihr, gelegentlich half er ihr beim Aufrichten oder beim Anziehen.
    An diesem Morgen brannte die kleine Tischleuchte noch nicht wie gewöhnlich, wenn er ins Zimmer trat. Er wischte sonst immer bei dieser kargen Beleuchtung, das kalte Neonlicht ließ er rücksichtsvollerweise aus. Das war der Ausgleich für die gütige Nachsicht ihrerseits auf seine morgendliche Pflicht.
    Er schaltete die Lampe ein und sah die grauen Augen ins Nichts gerichtet. Halb mit den Lidern bedeckt. Das ganze Gesicht strahlte Zufriedenheit und Glück aus. Hier war jemand in Frieden aus dieser Welt in eine Andere gegangen. Auch wenn er schon immer daran geglaubt hatte, dass das so ist, hier spürte er es deutlich.
    Er schaute die Tote eine ganze Zeit an. Sie muss erst kurz vorher gestorben sein, denn die Haut an den Schläfen war noch warm.
    Er war von der Schönheit des entspannten, von Furchen durchzogenen Gesichts überwältigt. Er hatte nie danach mit irgendjemand darüber gesprochen. Man hätte ihn vermutlich für wenigstens verrückt gehalten. Aber der Gesichtsausdruck der toten, alten Frau hatte sich tief in sein Gedächtnis gegraben. Es war tiefe, ehrliche Dankbarkeit und Seelenfrieden, was er da sah.
    Und noch etwas war ihm damals bewusst geworden. Eigentlich erst in dem Moment, als nachmittags die Angehörigen der Frau - Sohn und Schwiegertochter vermutlich -  auftauchten. Er hatte sie hier noch nie gesehen. Nie hatte die alte Frau Besuch erhalten.
    Sie standen im Büro des Chefarztes, die Tür war halb offen. Er hörte die Frau schluchzen und den Mann leise und mit erstickter Stimme reden. Er wusste nicht wie nah den beiden der Tod der alten Frau ging, aber offensichtlich trauerten sie.
    Das kam ihm zwar nicht ungewöhnlich, aber unecht vor.
    Es war die Art von Trauer, der er schon oft begegnet war und die er deswegen bezweifelte, weil es dabei immer nur um den eigenen Verlust ging. Es ging gar nicht um den, der gehen musste, sondern um die, die blieben. Im Unterschied zum Mitleid, der sich jemandem zuwendet, wenn auch auf eine eher unangenehme Art für diesen, geht es bei den meisten Trauernden um sich selbst. Eine Art Selbstmitleid.
    Vermutlich hatten sich Sohn und Schwiegertochter nicht das Gesicht der alten Frau angesehen. Sonst hätten sie erkannt, dass es keinen Grund für Trauer gab. Außer dem, sich selbst leid zu tun. Vielleicht ist es auch eine Art Schutzmechanismus.
    Er hatte damals keine Trauer empfunden. Er hatte das Glück auf dem Gesicht der Frau gesehen und es mit ihr geteilt. Sie war jetzt da, wo sie hinwollte und er gönnte ihr von Herzen den Frieden, den sie hier nicht mehr finden wollte und konnte. Vermutlich würde das aber niemand verstehen. Die Zeit, in der wir leben, verlangt nach angemessenen Ritualen. Und die Trauer gehört dazu.
    Er wunderte sich, dass er ausgerechnet jetzt an die alte Frau denken musste. Es war schon so lange her.
    Noch immer hatte er die Augen geschlossen und hörte den leisen Wind in den Bäumen und das Zwitschern und Pfeifen der Vögel. Er würde am liebsten noch stundenlang hier sitzen bleiben, aber er wusste auch, dass er es nicht ewig vor sich herschieben konnte. Das, was ihm noch bevor stand. Das, weshalb er eigentlich hergekommen war. Oder war er aus einem anderen Grunde da?
    Wie dem auch sei, er erhob sich langsam, knöpfte den Knopf des Jacketts zu und ging an der Kapelle vorbei auf den Hauptweg zu.
    Er wusste nicht, wie lange er auf der Bank gesessen hatte. Eine Stunde? Zwei? Es hatte auch keine Bedeutung. Ihm war es egal.
    Es kamen ihm Leute entgegen. In schwarzen Anzügen und Kleidern. Untergehakt zumeist. Blicke streiften ihn und in manchen erkannte er das zweifelnde Flackern des Erkennens. Er nickte nur und ging stumm weiter. Manche Gesichter kamen ihm bekannt vor,
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