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Die Teilung des Paradieses

Die Teilung des Paradieses

Titel: Die Teilung des Paradieses
Autoren: Michael Heidenreich
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unsichtbaren „Gegner“ gewehrt. Er fühlte sich dann nicht mehr ganz so der Ohnmacht ausgeliefert. Dem lähmenden Gefühl, gar nichts tun zu können. Mag sein, dass er mit dem Stein, symbolisch gewissermaßen, die Betonmauer überwinden wollte. Jedenfalls ging es ihm danach besser.
    Francoire arbeitete noch nicht lange bei Madame Gremont, als die ersten Unruhen im Ostteil der Stadt begannen und sich eine gewisse Spannung über die sonst so entspannte Metropole legte. Oder vielleicht war es eine trügerische Ruhe, eine Stille die man greifen konnte. Hören, wenn man wollte. Vielleicht war es ein unsichtbarer Mantel, über die Stadt gelegt, um den Zauber aufrecht zu erhalten, den Touristen und Besucher als das Besondere und Einzigartige der Stadt an der Seine von jeher besonders schätzten und auch erwarteten. Und dennoch brodelte es darunter.
    Die Zeichen standen auf Veränderung. Und wer genau hinsah, erkannte die unheilvollen Zeichen schon länger. Sie zogen im Laufe der Jahre heran, wie Gewitterwolken an einem warmen Sommertag. Erst fern am Horizont, von niemandem beachtet. Dann merklich näher kommend, jetzt schon bedrohlicher, aber immer noch nicht ernst, nur zur Kenntnis genommen. Und irgendwann, wenn sich schon jeder an die dunklen Wolken gewöhnt hatte, wenn man ihnen, in ihrem schauerlich-schönen Kontrast zum  hellen Sonnenlicht, sogar etwas reizvolles abgewinnen konnte, dann bricht  das Unwetter los. Mit einem Schlag und einer Wucht, die nur von der Natur erdacht sein kann.
    Oder vom Menschen. So wie an diesem heißen Augustsamstag.
    In der Rue d’ Amsterdam sperrte Gendarmerie und Militär die Strasse für den Autoverkehr. Parkverbotsschilder wurden aufgestellt und erste Autos abgeschleppt. Zunächst glaubten alle Anwohner an eine Havarie oder eine Zivilschutzübung. Auch dann noch, als mitten auf der Strasse Absperrungen aus Stacheldraht errichtet wurden.
    Sie glaubten das nicht mehr, als Anwohner nicht mehr auf die andere Straßenseite gelassen wurden. Es bildeten sich Menschengruppen, die aufgeregt und wild gestikulierend auf die Gendarmerieposten einredeten. Aber diese versahen weiter stur und ohne Antwort ihren Dienst. Unterstützt von Einheiten des Militärs patroullierten sie auf und ab. Ihren Mienen nach zu urteilen, hatten sie im Ernstfall keine Probleme damit, ihre Schusswaffen einzusetzen.
    Die abendlichen Straßenschlachten - im Politikerjargon verharmlosend als „soziale Unruhen“ bezeichnet - die Monate vorher im 20.Arrondissement, einem traditionellen Arbeiterviertel, ausbrachen und sich wie ein Flächenbrand über das 11.,12. und 19. Arrondissement ausweiteten,  legten immer mehr an Intensität zu und erreichten nie vorher gekannte Dimensionen. Brennende Autos, Barrikaden aus Müllcontainern, geplünderte Supermärkte und marodierende Jugendgangs wurden Alltag. Es  kam fast jeden Abend zu Ausschreitungen, zu wahren Straßenkämpfen.
    Als Reaktion darauf, unfähig die Probleme gemeinsam in den Griff zu bekommen, schlossen sich die Stadtverwaltungen jener Arrondissements, die nicht mit inzwischen entstandenen,  hoffnungslosen sozialen Schieflagen und einer gewissen sich entwickelnden Parallelgesellschaft zu kämpfen hatten, zusammen und gründeten die „Freie Stadt Paris“. Diese bestand zunächst aus dem 8., dem 18.,dem 17., dem 16. und dem 15. Arrondissement. Später kamen noch das 1, und das 6. hinzu. Zunächst als Verwaltungseinheit geplant, wurde alle anderen Arrondissements per se ausgeschlossen, faktisch ausgegliedert und dem „Ostteil“ der Stadt zugerechnet. Da, wo weit weg der Glitzerwelt von Champs Elysées und Moulin Rouge, weit von Kunsttempeln und Centre Georges Pompidou, weit entfernt von Eiffelturm und Notre-Dame  schäbige Wohnsilos, bunte afrikanischen Märkte, billige Gemüsestände, Junkies in den Hauseingängen, herumlungernde Jugendbanden,  einfache Wohnungen und kleine Geschäfte von Einwanderern aus Frankreichs ehemaligen Kolonien mehr und mehr das Straßenbild bestimmten.
    Diese Arrondissements störten. Sie störten den geruhsamen Tagesablauf der etablierten Gesellschaft. Störten die Touristen auf der Suche nach dem wahren, dem echten Paris. Dem, dass sie aus dem Kino kannten. Störten beim verklärten Blick auf ein Traumbild einer Stadt, die weltweit bekannt war, geliebt wurde und die doch nicht mehr die war und sein konnte, die sie so gern sein wollte. Eine romantische Illusion, eine Filmkulisse, eine Erinnerung an vergangene Zeiten. 
    Die
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