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Die Teilung des Paradieses

Die Teilung des Paradieses

Titel: Die Teilung des Paradieses
Autoren: Michael Heidenreich
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Welt zu Ende ist. Dort, wo der dunkle Wald sich lichtete, dort wo das Wasser unter Gestrüpp und Farn rauschte, dort wo alle zehn Meter ein Schild stand. Später, als sie lesen konnte, entzifferte sie: „Halt! Hier Grenze!“ das stand in Großbuchstaben auf den Schildern. Und etwas kleiner noch darunter: „Bundesgrenzschutz“.
    Obwohl sie damals noch nicht lesen konnte, die Muster der Buchstaben und die eindringlichen Warnungen vom Großvater waren abschreckend genug für das kleine Mädchen. Sie wagte es nicht, bis zu den Schildern vorzudringen.
    Auf der anderen Seite des Baches standen alle paar hundert Meter schwarz/rot/gelbe Betonsäulen. Oben war eine Metalltafel angebracht, die manchmal matt in der Sonne glänzte. Sie hatte versucht mit dem Fernglas zu sehen, was darauf stand. Aber sie sah nur ein rundes Muster, mit einem Hammer darin und noch etwas, was sie nicht genau erkennen konnte. Darunter stand auch noch etwas, aber auch das konnte sie nicht entziffern von ihrer Seite aus.
    Und gleich hinter den bunten Säulen war ein Gitterzaun, der sich immer mit dem Bach mitschlängelte. Machte der Bach eine Biegung, machte auch der Zaun eine. Selbst an der Stelle, an der es steil bergauf ging und der Bach schnell über die Steine nach unten hüpfte, war der Zaun immer in der Nähe. Eigentlich waren es zwei Zäune. Ein Doppelzaun, erklärte ihr Großvater. Sie verstand nicht, warum hier ein Doppelzaun notwendig war. Im Dorf gab es auch Zäune. Aber die waren nicht so hoch, meist aus Holz und nie doppelt. Und Stacheldraht war auch nicht darauf.
    Großvater lächelte, wenn sie ihn fragte und sagte, das könne sie auch nicht verstehen. Weil es keiner versteht. Nicht einmal die, die den Zaun gebaut haben. Er ließ dann immer eine ratlose, kleine Enkelin zurück.
    Als sie bereits in die dritte Klasse ging, mittlerweile wusste sie, was es mit dem merkwürdigen Zaun und den bunten Säulen auf sich hatte, gab es eine Veränderung. Eine Veränderung, die ihr Denken von Grund auf beeinflussen sollte.
    Sie machte wieder einmal einen Spaziergang mit ihrem Großvater und als sie in die Nähe der Grenze kamen, sahen sie von weitem schon einige grau-grüne Fahrzeuge hinter dem Zaun. Sie hörten Stimmen und das hohe Kreischen von Sägen. Auf ihrer Seite standen zwei Beamte des Bundesgrenzschutzes, die das Treiben auf der anderen Seite beobachteten. Die Beiden kannten die meisten Bewohner des kleinen hessischen Dorfes und waren einem Schwätzchen nie abgeneigt. An diesem Tag jedoch waren sie irgendwie nervös und nicht zu Späßen aufgelegt. Einer der Beiden sprach fortwährend in ein rauschendes Funkgerät.
    Der Großvater gesellte sich zu ihnen, während sie Blumen am Wegesrand pflückte.
    Nach einigen Minuten kam der Großvater zurück, nahm sie an die Hand und sagte: „Komm, wir kehren um. Heute können wir nicht spazieren gehen hier.“ Er machte ein ratloses Gesicht. Sie verstand nicht.
    „Aber Opa! Wir wollten doch zu dem Elsternest oben am Hang.“
    „Ja, meine Kleine. Ich weiß. Aber heute ist kein guter Tag dafür. Wir versuchen es ein anderes Mal. Ja?“
    Sie war maßlos enttäuscht und schmollte. Heute schämte sie sich fast ein wenig dafür. Denn sie spürte, dass der Großvater aufgewühlt und beunruhigt war. Aber sie wollte unbedingt das blöde Elsternest sehen damals.
     
    Der dunkle Hochwald lichtete sich und nun ging der Weg direkt am Fluss entlang. Es lief sich leicht, es war ein sonniger Tag und nach dem anstrengenden Anstieg war es ein erholsames Gehen. Auf der  linken Seite, da wo mal das verbotene Land lag, hatte sich die Natur ihr geraubtes Refugium wieder zurückgeholt, hatte die Schneise, die sich wie eine Narbe durch den Wald zog, sanft überdeckt mit Birken und Büschen. Die Wunde in der Natur war geschlossen. Die Wunden im Gedächtnis heilten nicht so schnell. Sie blieb stehen und schaute hinüber, dahin, wo es außer Wildwuchs nicht viel zu sehen gab. Aber wenn man genau hin sah, konnte man noch einige Betonpfähle mehr erahnen als sehen. Hier etwa musste es gewesen sein. Hier musste die Stelle sein. Nichts verriet mehr, was hier einmal war und doch sah sie es plötzlich ganz deutlich vor sich.
     
    Einige Wochen, nachdem sie damals mit ihrem besorgten Großvaters enttäuscht kehrt machen musste, war sie endlich wieder mit ihm den Weg gegangen. Sie hatte sich schon Tage vorher darauf gefreut. Vielleicht würde sie ja dieses mal das Elsternest zu sehen bekommen? Sie hüpfte ausgelassen an seiner
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