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Die Teilung des Paradieses

Die Teilung des Paradieses

Titel: Die Teilung des Paradieses
Autoren: Michael Heidenreich
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Stationen fahren und wieder umsteigen, diesmal in die Linie 13, um dann abermals zwei Stationen zu fahren und nach einer Fahrzeit von einer Stunde und sechsundzwanzig Minuten am Gare Saint-Lazare anzukommen.
    Mit dem längeren und umständlichen Weg zur Arbeit hatte sich Francoire irgendwann abgefunden. Aber sein Herz blutete jedes Mal, wenn er den mit groben Betonquadern vermauerten Eingang zu der weltberühmten Station „Abbessés“ im Vorbeigehen sah. Der schmiedeeiserne Jugendstil, einst Symbol für eine unbeschwerte Leichtigkeit, wurde von der Rohheit des Betons förmlich zerquetscht. Ästhetik bezwungen von Pragmatik. Welche Gegensätze! Welch Sinnbild menschlicher Engstirnigkeit und Ignoranz!
    Jedes Wochenende pilgerten die Menschen von beiden Seiten der Stadt zu den Orten, die vom ehemaligen Zentrum noch begehbar waren und schauten wie paralysiert hinüber in die zum Greifen nahe und doch unendlich ferne, fremd gewordene Welt. Der Eifelturm ragte so nah über die unerbittliche Trennwand, wie an manchen Sommerabenden der rostrote Mond und war doch weiter weg als dieser.
    Francoire stand an einem Samstag im Herbst am Grand Palais. Er sah den Kontrollpunkt mit dem Schlagbaum auf der Brücke Alexandre III und auf der anderen Seite der Seine in der Ferne die goldene Kuppel des Invalidendomes in der Abendsonne glänzen.
    Hinter ihm ging eine ältere Dame auf und ab. Sie schluchzte und tupfte sich mit einem Spitzentüchlein die runzligen Wangen ab.
    Dabei murmelte sie. „Es wird Zeit, dass dieser Wahnsinn ein Ende hat. Wie lange müssen wir diese Demütigung denn noch aushalten? Es ist genug! Es ist genug!“
    Francoire stimmte ihr im Stillen zu. Er ballte die Hände in den Hosentaschen, dann stutzte er und zuckte leicht zusammen....                 
     

„Pardon, Madame. Was sagten Sie?“
    Madame Lessault, die vor ihm auf dem Waschsessel mit dem Kopf im Becken saß, zog die Augenbrauen hoch und sah ihn über Kopf leicht belustigt an.
    „Ich sagte, es ist genug. Oder ist mein Haar heute irgendwie besonders intensiv behandlungsbedürftig?“
    Francoire schaute verdutzt. „Entschuldigen Sie vielmals, Madame, ich verstehe immer noch nicht...“
    Madame Lessault lächelte. „Nun, ich frage, weil sie schon seit mindestens zwanzig Minuten mit geradezu sturer Hingabe meinen Kopf shampoonieren. Nicht das es unangenehm wäre, ganz im Gegenteil, aber so langsam tut mir der Rücken weh vom zurückgebeugten Sitzen und die Kopfhaut wird auch immer dünner, fürchte ich.“
    Kiki, die kleine, dünne Aushilfskraft, kicherte und Madame Gremont schüttelte missbilligend den Kopf.
    „Oh, verzeihen Sie, Madame Lessault, ich war wohl etwas in Gedanken.“
    Entschuldigte sich Francoire beflissen, prüfte das Wasser auf die richtige Temperatur und begann den Schaum von Madame Lessaults kupferblondem Haar abzuspülen.
    „Ja ganz offensichtlich.“ Stellte diese leicht amüsiert fest. „Wer ist denn die Glückliche? Oder der Glückliche?“ Schneller Augenaufschlag und schelmischer Blick.
    „Pardon....?“
    Jetzt lachte Kiki laut schallend auf und Francoire warf ihr einen wütenden Blick zu. Alberne Göre!
    „Na sie wollen mir doch nicht erzählen, dass ein so gutaussehender Mann wie sie...“ und dabei schaute sie wieder von unten mit einem Blick wie vom Bogen abgeschossen zu ihm herauf, „...in Gedanken versunken einer alten Frau wie mir wie ein Roboter in den Haaren wühlt und dabei nicht an eine schöne Frau denkt. Oder, nun ja, mon Dieu, warum nicht, an einen gut gebauten jungen Mann?“
    „Oh doch, Madame, das heißt nein. Ich meine, es ist ganz anders als Sie denken...“ stotterte Francoire. Er merkte wie er rot wurde und sich darüber ärgerte. Schnell beugte er sich zu dem kleinen Schränkchen hinab, in dem die Frottiertücher lagen, holte umständlich ein bordeauxfarbenes heraus und schlang es Madame Lessault, bevor sie noch etwas sagen konnte, um den Kopf. Dann stellte er ihre Rückenlehne wieder in eine aufrechte Position und begann ihr Haar sanft und mit leicht massierenden Fingerbewegungen zu trocknen.
    Madame Lessault genoss es mit geschlossenen Augen und Francoire konnte so wieder seine Gedanken ordnen.
    „Ich musste gerade an meinen Traum heute nacht denken.“
    „Olala...lassen Sie uns doch teilhaben an Ihren amourösen Gedanken der Nacht.“
    Francoire zuckte mit den Schultern.
    „Ich muss Sie enttäuschen, Gnädigste. Mein Traum war eher das Gegenteil davon. Er war entsetzlich und
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