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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
Autoren: Zeruya Shalev
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    Liebesleben
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    FÜR MARVA
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    1
    Er war nicht mein Vater und nicht meine Mutter, weshalb öffnete er mir dann ihre Haustür, erfüllte mit seinem Körper den schmalen Eingang, die Hand auf der Türklinke, ich begann zurückzuweichen, schaute nach, ob ich mich vielleicht im Stockwerk geirrt hatte, aber das Namensschild beharrte hartnäckig darauf, daß dies ihre Wohnung war, wenigstens war es ihre Wohnung gewesen, und mit leiser Stimme fragte ich, was ist mit meinen Eltern passiert, und er öffnete weit seinen großen Mund, nichts ist ihnen passiert, Ja’ara, mein Name rutschte aus seinem Mund wie ein Fisch aus dem Netz, und ich stürzte in die Wohnung, mein Arm streifte seinen kühlen glatten Arm, ich ging an dem leeren Wohnzimmer vorbei, öffnete die verschlossene Tür ihres Schlafzimmers.
    Wie auf frischer Tat ertappt, drehten sie mir die Gesichter zu, und ich sah, daß sie im Bett lag, ein geblümtes Küchenhandtuch um den Kopf gewickelt, eine Hand an der Stirn, als fürchte sie, das Tuch könne runterfallen, und mein Vater saß auf dem Bettrand, ein Glas Wasser in der Hand, das Glas bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er hin und her, und auf dem Fußboden, zwischen seinen Füßen, hatte sich schon eine kleine zitternde Pfütze gebildet. Was ist passiert? fragte ich, und sie sagte, ich fühle mich nicht wohl, und mein Vater sagte, noch vor zwei Minuten hat sie sich prima gefühlt, und sie maulte, siehst du, er glaubt mir wieder mal nicht. Was hat der Arzt gesagt, fragte ich, und mein Vater sagte, was für ein Arzt, sie ist gesund wie ein Ochse, ich wünschte, ich wäre so gesund wie sie, und ich blieb hartnäckig, aber ihr habt einen Arzt gerufen, oder? Er hat mir doch die Tür aufgemacht, oder?
    Wieso Arzt, mein Vater lachte, das ist mein Freund Arie Even, erinnerst du dich nicht an Arie? Und meine Mutter sagte, warum sollte sie sich an ihn erinnern, sie war noch nicht geboren, als er das Land verlassen hat, und mein Vater stand auf und sagte, ich gehe zu ihm, es gehört sich nicht, ihn allein zu lassen. Eigentlich sah es aus, als käme er ganz gut allein zurecht, sagte ich, er benahm sich wie der Herr des Hauses, und meine Mutter begann zu husten, ihre Augen wurden rot, und mein Vater hielt ihr ungeduldig das Glas hin, das inzwischen schon fast leer war, und sie schnaubte, bleib bei mir, Schlomo, ich fühle mich nicht wohl, aber er war schon an der Tür, Ja’ara bleibt bei dir, sagte er, wofür hat man denn Kinder.
    Sie trank den Rest Wasser und nahm sich das nasse Handtuch vom Kopf, ihre dünnen Haare standen hoch wie die Stacheln eines Igels, mitleiderweckend, und als sie versuchte, sie an ihrem Schädel glattzustreichen, dachte ich an den Zopf, den sie einmal hatte, diesen hinreißenden Zopf, der sie überallhin begleitete, lebendig wie eine kleine Katze, und ich sagte, warum hast du ihn abgeschnitten, das war, wie wenn man ein Bein amputiert, hättest du dir mit derselben Leichtigkeit ein Bein abnehmen lassen? Sie sagte, der Zopf hat schon nicht mehr zu mir gepaßt, nachdem sich alles verändert hatte, und richtete sich im Bett auf, schaute nervös auf die Uhr, wie lange will er noch hier sitzen, mir stinkt es, den hellichten Tag im Bett zu verbringen.
    Du bist wirklich nicht krank, stellte ich fest, und sie kicherte, natürlich nicht, ich kann diesen Kerl einfach nicht ausstehen, und ich sagte sofort, ich auch nicht, denn die Stelle, wo unsere Arme sich berührt hatten, brannte, als hätte mich etwas gestochen, und dann fragte ich, warum.
    Das ist eine lange Geschichte, sagte sie, dein Vater schätzt ihn, sie haben zusammen studiert, vor dreißig Jahren, er war sein bester Freund, aber ich habe immer gedacht, daß Arie nur mit ihm spielt, ihn sogar ausnützt, ich glaube nicht, daß er überhaupt in der Lage ist, etwas zu fühlen. Schau doch, jahrelang haben wir nichts von ihm gehört, und plötzlich taucht er hier auf, weil Papa etwas für ihn arrangieren soll.
    Aber du hast gesagt, daß er nicht hier gelebt hat, sagte ich und fand mich plötzlich in der Situation, daß ich ihn verteidigte, aber sie sagte, stimmt, sie haben in Frankreich gelebt, erst jetzt sind sie nach Israel gekommen, aber wenn man will, kann man auch von dort aus Kontakt halten, und ihr Gesicht reduzierte sich auf eine konzentrierte Bosheit, auf ein Dreieck voller Falten und Altersflecken, das trotzdem kindlich wirkte, mit den mißtrauisch zusammengekniffenen Augen, staubig wie Fenster, die man seit Jahren nicht geputzt hat, und
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