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Der Frevel des Clodius

Der Frevel des Clodius

Titel: Der Frevel des Clodius
Autoren: John Maddox Roberts
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I
    Ich frage mich manchmal, ob wir je wissen können, was wirklich geschehen ist. Tote schreiben nicht, also ist Geschichtsschreibung zwangsläufig eine Sache der Überlebenden. Von denen, die überleben, haben einige wenige die Ereignisse selbst miterlebt, während andere nur davon gehört haben Jeder, der schreibt oder erzählt, übermittelt die Begebenheiten nicht notwendigerweise so, wie sie sich ereignet haben, sondern vielmehr so, wie sie sich hätten ereignen sollen, um den Erzähler oder seine Vorfahren oder seine politische Richtung in einem guten Licht erscheinen zu lassen.
    Während einer meiner zahlreichen Phasen des Exils war ich einmal auf die schöne, aber langweilige Insel Rhodos verbannt.
    Auf Rhodos gibt es nichts zu tun, außer Vorlesungen an einer der vielen Bildungsstätten der Insel zu besuchen. Ich entschied mich für eine Vorlesung in Geschichte, weil in jenem Semester sonst nur noch Philosophie angeboten wurde, eine Disziplin, die ich wie jeder vernünftige Mensch stets gemieden habe.
    Die Geschichtsvorlesungen wurden von einem Gelehrten namens Antigonus abgehalten, der damals einen hervorragenden Ruf genoß, heute aber praktisch vergessen ist. Einen seiner Vorträge widmete er ausschließlich der Wandlungsfähigkeit historischer Fakten. Als Beispiel nannte er den Fall der Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die vor fünfhundert Jahren in Athen gelebt haben. Athen wurde damals von Hippias und Hipparch regiert, den Söhnen des Tyrannen Peisistratos. Nun, es hat den Anschein, als hätten Harmodios und Aristogeiton einen Aufstand gegen die Peisistratiden angezettelt, aber in Wirklichkeit planten sie nur, einen von beiden umzubringen, ich habe vergessen welchen. Der überlebende und betrübte Bruder ließ beide hinrichten, und zwar mit allen Schikanen. Daraufhin organisierte die antipeisistratische Fraktion, mit den beiden gemeuchelten Tyrannenmördern als Märtyrer, einen erfolgreichen Aufstand und inthronisierte ihren eigenen, aufgeklärten Herrscher, entweder Kleisthenes oder einen anderen. Und ehe man sich versah, war ganz Griechenland samt Kolonien mit Statuen der Tyrannenmörder übersät. Mein Vater hatte eine prächtige Skulpturengruppe von Axias im Garten seines Landhauses stehen, die einer unserer Vorfahren von der Plünderung Korinths mitgebracht hatte.
    In Wirklichkeit, erklärte Antigonus, sei die Geschichte ganz anders abgelaufen. Harmodios und Aristogeiton waren keineswegs idealistische, junge Demokraten mit einem unüberwindbaren Tyrannenhaß. Sie waren ein Liebespaar. Der ermordete Peisistratide begehrte den hübscheren der beiden, welcher jedoch keineswegs vorhatte, seinen Freund für einen häßlichen, alten Päderasten zu verlassen: deswegen wurde der Mordplan ausgeheckt. Erst nachdem die beiden tot waren, schuf die Partei der Anti-Peisitratiden die Legende vom Tyrannenmord.
    Das wirklich Erstaunliche daran ist, daß damals alle die wahre Geschichte kannten! Sie haben sich nur stillschweigend darauf geeinigt, aus Propagandazwecken an die Legende zu glauben.
    So wurde die Legende, um einen von Antigonus geprägten Ausdruck zu verwenden, zur »politischen Wahrheit«. Es war eine typisch griechische Geschichte, und nur ein Grieche hätte sich einen derartigen Begriff ausdenken können.
    Antigonus fuhr fort, daß nur diejenigen, die ein historisches Ereignis direkt miterlebt hatten, wußten, was in Wahrheit geschehen war, während der Rest von uns es nur wie durch dichten Nebel oder wie ein Blinder, der die Umrisse einer Statue ertastet, wahrnehmen könnte. Er sagte, es gäbe Zauberer, die wie Proteus in der Sage von Odysseus die Schatten der Toten rufen und sie zum Sprechen bewegen könnten, und daß dies vielleicht die einzige Möglichkeit sei, die Wahrheit über ein vergangenes Ereignis zu erfahren.
    Damals hielt ich das für überaus vernünftig, aber inzwischen sind mir Zweifel gekommen. Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als mir mein gegenwärtiges profundes Wissen zuteil wurde, kam mir nämlich die Frage: Hören Menschen auf zu lügen, bloß weil sie tot sind? Ich glaube nicht. Ehrgeizige Männer sorgten sich immer um das Bild, das sich die Nachwelt von ihnen macht, und sie würden diesem Bemühen zuwider handeln, wenn sie anfingen, die Wahrheit zu sagen, sobald sie sich am Ufer des Styx lustwandelnd wiederfänden, auf die nächste Ladung Passagiere wartend, die mit der Fähre ankommt.
    Man muß gar nicht bis zu den antiken Knabenliebhabern aus Athen zurückgehen, um auf
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