Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tatarin

Titel: Die Tatarin
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
tun, aber die Pferde bleiben hier!«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht tun! Bödr ist ein Sohn der Steppe und braucht ein Pferd.«
    »Eines davon kann er haben«, lenkte Sergej ein.
    Bödr zeigte eine verzweifelte Miene und ruderte mit seinen Armen so rasch durch die Luft, dass Schirin eine Weile brauchte, um ihn zu verstehen. »Er braucht das zweite Pferd für jemand anderen«.
    »Den will ich zuerst sehen!« Sergej gab Bödr den Wink weiterzugehen und folgte ihm. Schirin blieb an seiner Seite. Bödr führte sie ein Stück in den Budischtschi-Wald hinein, wo neben etlichen toten Schweden auch eine Anzahl von gefallenen Russen und Kosaken lag, und blieb schließlich bei einem Gebüsch stehen. Dort kauerte ein Mann, dem ein Säbelhieb die rechte Wange aufgeschlitzt hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis Schirin Ilgur erkannte, den Kirilin ebenfalls ausgeschickt hatte, um den Zaren zu ermorden.
    Als Ilgur die sich nähernden Schritte hörte, griff er zu seiner Pistole, ließ sie aber wieder sinken, als er sah, wer vor ihm stand. »Bahadur? Du hast also im Gegensatz zu mir das richtige Pferd gesattelt, indem du wieder zu den Russen zurückgekehrt bist. Wir hätten Zar Peters Heer niemals verlassen sollen, aber ich Dummkopf bin auf Kirilins Versprechungen und das Gerede seiner Freunde hereingefallen. Ich sollte ihnen helfen, und dafür wollten sie mich zum Khan von Kasanmachen. Ha! Jetzt sind sie entweder tot oder geflohen, und ich weiß nicht einmal, ob ich mir selbst helfen kann.«
    »Wolltest du nicht den Zaren töten?«, fragte Sergej an Schirins Stelle. Ilgur machte eine wegwerfende Handbewegung und keuchte im selben Moment vor Schmerz auf. »Schischkin bestand auf der Ehre, es als Erster zu versuchen. Nachdem er gescheitert war, habe ich keinen Versuch gewagt, sondern bin zu den Schweden zurückgekehrt, statt schnellstens aus der Gegend zu verschwinden. Das war wohl der letzte Fehler, den ich gemacht habe.« Er verzog das Gesicht, wohl weil eine neue Schmerzwelle seinen Körper durchfuhr, und versuchte dann zu lächeln.
    »Bahadur, weißt du, dass wir beide und Ostap in Sankt Petersburg die einzigen Geiseln sind, die diesen Krieg lebend überstanden haben? Alle anderen sind tot.«
    Schirin stemmte empört die Hände in die Hüften. »Nicht alle! Du hast Bödr vergessen.«
    Ilgur drehte den Kopf und blickte den Kalmücken an, als müsse er sich erst erinnern, dass auch dieser ein menschliches Geschöpf war. »Ach so, Bödr gibt es ja auch noch. Ohne ihn hätte ich die letzten Stunden wohl nicht überstanden. Nachdem ich verwundet worden war, hat er mich zu diesem Gebüsch gezogen und Kleidung von toten Kosaken besorgt, damit wir unsere schwedischen Uniformen loswerden konnten. Jetzt hat er auch noch Pferde gebracht. Bei Allah, vielleicht schaffen wir es wirklich, den Ural zu überqueren und nach Hause zurückzukehren!« Ilgur kämpfte sich mühsam auf die Beine und wankte auf eines der Pferde zu.
    Schirin erinnerte sich daran, wie oft Ilgur sie während ihrer Gefangenschaft bedroht und verspottet hatte, und doch vermochte sie ihn nicht zu verdammen. Sie legte Sergej die Rechte auf den Arm, um zu verhindern, dass er ihn aufhielt.
    »Lass ihn gehen. Er gehört nicht in dieses Land, und dies war auch nicht sein Krieg.«
    Sergej zögerte einen Moment und trat dann einen halben Schritt zurück,um Ilgur vorbeizulassen. Schirin schenkte ihm einen dankbaren Blick und sah zu, wie Bödr seinem Herrn auf eines der Pferde half und das andere selbst bestieg.
    »Du musst nicht mit ihm gehen, Bödr! Hier bist du kein Sklave mehr«, rief Schirin ihm zu.
    Der Kalmücke schüttelte mit einem traurigen Lächeln den Kopf. »Er braucht mich«, sagten seine Gesten. Er hob die Hand zum Gruß und ritt an. Ilgur folgte ihm schmerzverkrümmt und ohne einen Blick für die Welt.
    Schirin nahm Sergejs zerschrammte Hände, führte sie an ihre Wangen und lehnte sich dabei gegen ihn. »Vielleicht schaffen die beiden es, sich in die Heimat durchzuschlagen.«
    »Und wo wird unsere Heimat sein?«, fragte er lächelnd.
    »Wo immer wir zusammen sind«, klang es leise zurück.

XII.
    Schirin blickte auf das kleine Plateau, das sich über dem Hochufer der Burla erstreckte. Einst hatte hier um diese Jahreszeit reges Leben geherrscht, doch darauf deuteten nur noch die Holzhütte ihres Vaters und die Reste der Einfriedung hin. Der Anblick stimmte sie traurig und froh zugleich; traurig, weil sie die Menschen ihres Stammes, die sie gemocht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher