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Die Tatarin

Titel: Die Tatarin
Autoren: Iny Lorentz
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denn ihr Ziel war ihre eigene Unterkunft. Sie lief hinein, öffnete mit fiebernden Händen die Truhe, in der Marfa ihre tatarische Tracht verstaut hatte, und zog sich eilends um. Als sie das Zelt wenige Augenblicke mit dem Säbel in der Hand verließ, war sie wieder Bahadur. Als Frau hätte man sie niemals im Freien herumlaufen lassen, doch in dieser Verkleidung hoffte sie im Getümmel der Schlacht untertauchen und Sergej suchen zu können. Bevor es zu Ende ging, wollte sie ihm noch sagen, wie es um ihre Gefühle für ihn stand, und – wenn Allah es so wollte – an seiner Seite sterben.
    Die Schlacht tobte so wild, dass wohl niemand mehr einen Überblick besaß, und so gelang es ihr ohne Probleme, das Hauptlager zu verlassen. Dabei warf sie immer wieder einen Blick auf den Zaren, dessen Haltung auch ihr Zuversicht einflößte. Obwohl die Schwedenwie eine Mauer aus Eisen näher rückten, wirkte Pjotr Alexejewitsch so ruhig, als befände er sich auf einem Übungsplatz. Der erfahrene Feldherr hatte längst erkannt, was sein Feind Carl XII. nicht wahrhaben wollte: Die Zahl der Schweden war viel zu gering und ihre Verluste durch das russische Kanonen- und Musketenfeuer zu groß, um den Durchbruch zu schaffen.
    »Feuert, was ihr könnt!«, rief er seinen Kanonieren und Grenadieren gleichermaßen zu und lachte laut auf, als Menschikow in goldstrotzender Pracht neben ihn trat. »Ein Schwede, der dich gefangen nimmt, wäre zeit seines Lebens aller Geldsorgen ledig«, spottete er mit einem Blick auf die glitzernden Diamanten, die den Getreuen schmückten.
    Menschikow hob scheinbar indigniert die rechte Augenbraue. »Aber, Euer Majestät, ich habe nicht vor, mich berauben zu lassen. Ich trage diese Kleidung nur, um die Kapitulation der schwedischen Generäle als wahrer Edelmann entgegennehmen zu können.«
    Der Zar, der wusste, dass sein Freund als Sohn eines einfachen Stallknechts zur Welt gekommen war, prustete bei dem Wort Edelmann lauthals los. Seine Antwort hörte Schirin nicht mehr, denn sie hatte jetzt eine Lücke zwischen dem rechten Flügel der Schweden und dem Jakowzy-Wald entdeckt, durch die sie zu den vorgelagerten Schanzen laufen konnte. Im Lager hatte sie sich auf Goldfell schwingen wollen, dann aber davon abgesehen, weil sie das kostbare Tier nicht gefährden wollte, und nun war sie froh über diesen Entschluss, denn immer wieder summten Querschläger dicht an ihr vorbei, und sie musste zwischendurch auf allen vieren krabbeln, um nicht getroffen zu werden. Einmal nahmen einige Schweden sie direkt aufs Korn, und sie rannte, so schnell ihre Beine sie trugen, um ein paar Bäume zu erreichen, die ihr Deckung versprachen. Als sie zwischen die Stämme sprang, erschreckte ihr plötzliches Auftauchen einen russischen Grenadier, der aus dieser Deckung heraus die Schweden unter Feuer nahm. Er riss im letzten Moment den Lauf seiner Muskete hoch, und sein Schuss entlud sich in die Wolken.
    »Hast du Hauptmann Tarlow gesehen?«, fragte Schirin, bevor er etwas sagen konnte. Der Soldat schüttelte den Kopf, doch da tauchte ein anderer aus dem Unterholz auf und deutete hinter sich. »Tarlow und seine Steppenteufel sind bei der vordersten Schanze. Aber da gibt es kein Durchkommen mehr. Die Schweden haben seine Stellung eingeschlossen.«
    Kaum hatte er seine Worte ausgesprochen, da glitt Schirin wie ein Schatten durch das Wäldchen, sprang über die Verschanzung, die vor ihr auftauchte, ohne sich um die Rufe der Soldaten um sie herum zu kümmern, und eilte weiter. Wohl sah sie Schweden in der Nähe, aber die meisten lagen entweder stöhnend und wimmernd am Boden oder schleppten sich blutend zu ihren eigenen Reihen zurück. Keiner von ihnen hatte einen Blick, geschweige denn eine Kugel für den jungen Tataren übrig, der an ihnen vorbeirannte und schließlich die vorderste noch besetzte und daher am meisten umkämpfte Schanze erreichte.
    Sergej verteidigte mit seinen Männern das linke Ende des aus Baumstämmen errichteten Walls und hatte, wie die vielen Toten um ihn herum verrieten, mehrere Angriffswellen abgeschlagen. Ihm selbst schien jedoch nichts zu fehlen, denn er wirkte beinahe übermütig, als er seinen Männern befahl, eine neue Salve abzugeben.
    Schirin eilte auf ihn zu und klammerte sich an ihn. »Ich bin so froh, dass dir nichts geschehen ist!«
    Sergej zuckte im ersten Moment zusammen und starrte sie an, als hielte er sie für ein Gespenst. Dann ließ er seinen Säbel fallen, packte mit beiden Händen zu, als müsse
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