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Die Tänzer von Arun

Titel: Die Tänzer von Arun
Autoren: Elizabeth A. Lynn
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war das Wiegenlied, das Ilene gesungen hatte. »Schlafe, mein Kindchen, schlafe nun ein, süß sollst du träumen, wohl soll dir sein ...« Er sang es leise mit.
    »Das ist schön«, sagte er dann.
    Suya lächelte.
    Über Kerris' Kopf brüllte eine Stimme: »Verdammter Lärm!« Durch eine viereckige Öffnung schaute ein hartes dunkles Gesicht. Die Kinder sprangen auseinander. Kerris faßte Suya an dem dürren Handgelenk, bevor der Junge davonrennen konnte.
    »Ich hab's euch gesagt, ich will nicht ...« Der Mann erblickte Kerris, und das Geschrei erstarb ihm im Mund. »Haben dich die Gören geärgert?«
    »Nein«, sagte Kerris. »Ich hab' sie gebeten, mir die Musik vorzuspielen.«
    »Ha! Musik! Musik nennst du das? Katzengeschrei nenne ich es.« Aber der Kopf verschwand blitzschnell wieder in dem Backsteinhaus.
    Kerris ließ Suyas Arm los. Gerri klatschte in die Hände. »Und jetzt können wir hierbleiben!«
    Suya blieb stehen. »Er hat mich verdroschen, das letztemal, wie er mich hier beim Schlafen erwischt hat.«
    Kerris schaute sich in der engen Gasse um. »Du schläfst hier?«
    Suya zuckte die Achseln.
    Gerri zischte: »Er hat kein Recht, dich zu schlagen. Giftgesicht Ree! Er ist nicht mit dir verwandt!«
    »Ich will ihn umbringen!« sagte der Junge ruhig. »Aber ich weiß nicht, wie, und keiner will es mir beibringen.«
    Danu blickte entsetzt drein. »Du willst ihn doch gar nicht umbringen«, sagte er. »Menschen töten, das bricht das chea. Du willst bloß, daß er aufhört, dich zu schlagen.« Gerri nickte zustimmend. Aber Suya stierte nur in den Staub.
    Ein weißer Vogel glitt durch die Gasse hinunter. Die Schwingen waren wie zwei Messer. Der Vogel legte die Flügel ordentlich an den fetten, glatten Körper und begann an den Karotten- und Rübenabfällen herumzupicken. Kerris fragte: »Wie heißt man diesen Vogel?«
    Die Kinder starrten ihn an. Schließlich gab ihm Gerri Antwort: »Das ist eine Möwe.«
    Kerris klemmte seine Bettrolle zwischen die Knie. »Ich komme aus dem Norden«, erklärte er, »und ich bin noch nie so weit im Süden gewesen. Warum mußt du auf der Gasse schlafen?«
    Suya schabte mit der Ferse im Staub. »Keine Verwandten.«
    »Sind sie tot?«
    Wieder zuckte Suya nur die Achseln. »Weiß nicht. Weiß nicht, wer sie sind.«
    Kerris lehnte sich an die rauhen Steine. Es erschien ihm undenkbar, daß ein Kind keine Verwandten, keine Familie haben sollte.
    Suya sagte: »Meine Mutter war Asech.« Er wendete den Kopf, damit Kerris die kleinen Löcher in seinem Ohrläppchen sehen könne. »Weiß auch nicht, was mit ihr passiert ist. Mein Vater war ein Stadtkerl. Ihn kenn ich nicht.«
    »Aber wo lebst du denn?« fragte Kerris.
    »Auf der Straße.«
    »Wo kriegst du zu essen?«
    »Manchmal geben sie mir was in der Halle. Das ist zwar nur für Fremde gedacht, aber sie lassen mich manchmal rein.«
    »Wie alt bist du?«
    »Weiß nicht.« Das stumpfe Gesicht des Jungen wurde ein wenig dunkler. »Ich glaube, vierzehn.«
    Kerris erinnerte sich an einen kleinen Jungen, den er einst sehr gut gekannt hatte und der zusehen mußte, wie seine Freunde im Waffenhof von Tornor kreisten und zustießen und parierten und wieder kreisten. »Das ist alles nicht sehr gerecht«, sagte Kerris.
    Suyas dünne Schultern hoben sich wieder in diesem verbitterten abwehrenden Zucken.
    Kerris schüttelte den Kopf. »Du brauchst jemand«, sagte er. »Irgendeinen Verwandten. Wenn nicht Mutter oder Vater, dann Tante oder Onkel. Oder einen Bruder.« Er dachte daran, wie einsam sein Leben auf Tornor hätte sein müssen, ohne Paula, Josen, ohne Tryg – ja sogar ohne Morven. Sogar ohne Kili.
    Gerri sagte: »Ich sag ihm die ganze Zeit, er soll in den Hof kommen mit mir, und wir zeigen ihm, wie er Ree zu Fetzen hauen kann. Aber er mag nicht mitkommen.«
    »Kannicht.«
    »Warum nicht?« fragte Kerris.
    Suya kickte einen Ziegelbrocken über die Gasse. Die Sohlen seiner Füße waren dreckig und sahen so hart wie Horn aus. »Kein Messer.« Er griff an seinen Gürtel und befingerte die Stelle, wo sonst das Messer hängt. »Und außerdem, sie wollen mich nicht dort haben.«
    In diesem kleinen Satz klang eine schreckliche Einsamkeit auf, und Schmerz und Not. Kerris spürte, wie es die Mauer in seiner Seele berührte und von ihr abprallte. Es erschien ihm als ungerecht, daß unter allen Menschen ausgerechnet er zufällig diesem Kind begegnen mußte, er, ein Fremdling in dieser Stadt und im Süden. Suya schaute ihn mürrisch an, als sei er zornig
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