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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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grenzte
an ein Wunder, oder vielleicht war es sogar ein Wunder, daß er den Mittelstreifen unbeschadet erreichte.
    Gott sei Dank. Er hat es geschafft. Wenigstens so weit.
    Der Mann merkte, daß ihm der Schweiß ausgebrochen war, daß das T-Shirt, das er unter seinem Wollpullover trug, nun an seinem Körper klebte. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach. Er fuhr an den rechten Fahrbahnrand, brachte den Wagen auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Vor ihm erhob sich - sehr düster heute, wie ihm schien - der Felsen, auf dem Notre Dame de Beauregard ihren schmalen, spitzen Kirchturm in den grauen Himmel bohrte. Warum wurde der Himmel heute nicht blau? Gerade hatte er die Ausfahrt St. Remy passiert, es war nicht mehr weit bis zur Mittelmeerküste. Allmählich könnte der verhangene Oktobertag südlichere Farben annehmen.
    Der kleine Hund fiel ihm wieder ein; der Mann verließ das Auto und blickte prüfend zurück. Er konnte ihn nirgends entdecken, nicht auf dem Mittelstreifen, aber auch nicht zu Brei gefahren auf einer der Fahrspuren. Ob es ihm geglückt war, die Autobahn auch noch in der Gegenrichtung zu überqueren?
    Entweder, dachte er, man hat einen Schutzengel, oder man hat keinen. Wenn man einen hat, dann ist ein Wunder kein Wunder, sondern eine logische Konsequenz. Wahrscheinlich trabt der kleine Hund jetzt fröhlich durch die Felder. Die Erkenntnis, daß er eigentlich tot sein müßte, wird sich seiner nie bemächtigen.
    Die Autos jagten an ihm vorbei. Er wußte, daß es nicht ungefährlich war, hier herumzustehen. Er setzte sich wieder in den Wagen, zündete eine Zigarette an, nahm sein Handy und überlegte einen Moment. Sollte er Laura jetzt schon anrufen? Sie hatten vereinbart, daß er sich von »ihrem« Rastplatz melden würde, von jenem Ort, an dem man zum erstenmal das Mittelmeer sehen konnte.
    Er tippte stattdessen die Nummer seiner Mutter ein, wartete geduldig. Es dauerte immer eine ganze Weile, bis die alte
Dame ihr Telefon erreichte. Dann meldete sie sich mit rauher Stimme: »Ja?«
    »Ich bin es, Mutter. Ich wollte mich einfach mal melden.«
    »Schön. Ich habe lange nichts mehr von dir gehört.« Das klang vorwurfsvoll. »Wo steckst du?«
    »Ich bin an einer Tankstelle in Südfrankreich.« Es hätte sie beunruhigt zu hören, daß er auf dem Seitenstreifen einer Autobahn stand und weiche Knie hatte wegen eines kleinen Hundes, der gerade vor seinen Augen dem Tod von der Schippe gesprungen war.
    »Ist Laura bei dir?«
    »Nein. Ich bin alleine. Ich treffe Christopher zum Segeln. In einer Woche fahre ich wieder nach Hause.«
    »Ist das um diese Jahreszeit nicht gefährlich? Das Segeln, meine ich.«
    »Überhaupt nicht. Wir machen das doch jedes Jahr. Ist schließlich nie schiefgegangen.« Er sagte dies in einem bemüht leichten Ton, von dem er fand, daß er völlig unecht klang. Laura hätte jetzt nachgehakt und gefragt: »Ist irgend etwas? Stimmt was nicht? Du klingst merkwürdig.«
    Aber seine Mutter würde es nicht einmal registrieren, wenn er im Sterben läge. Es war typisch für sie, besorgte Fragen zu stellen, wie die, ob das Segeln zu dieser Jahreszeit vielleicht gefährlich war. Möglich, daß sie sich tatsächlich Gedanken darum machte. Aber manchmal argwöhnte er, daß sie Fragen dieser Art routinemäßig abschoß und sich für deren Beantwortung schon nicht mehr interessierte.
    »Britta hat angerufen«, sagte sie.
    Er seufzte. Es bedeutete nie etwas Gutes, wenn sich seine Ex-Frau mit seiner Mutter in Verbindung setzte.
    »Was wollte sie denn?«
    »Jammern. Du hast wieder irgendeine Zahlung an sie nicht überwiesen, und angeblich reicht ihr Geld vorne und hinten nicht.«

    »Das soll sie mir selber sagen. Sie braucht sich nicht hinter dich zu klemmen.«
    »Du würdest dich regelmäßig verleugnen lassen, wenn sie dich im Büro anruft, behauptet sie. Und daheim... Sie sagt, sie hätte wenig Lust, immer an Laura zu geraten.«
    Er bereute es, seine Mutter angerufen zu haben. Irgendwie gab es stets Ärger, wenn er das tat.
    »Ich muß Schluß machen, Mutter«, sagte er hastig, »mein Handy hat kaum noch Saft. Ich umarme dich.«
    Warum habe ich das gesagt? überlegte er. Warum dieses alberne Ich umarme dich. So reden wir normalerweise gar nicht miteinander.
    Es gelang ihm mit einiger Anstrengung, sich von der Standspur wieder in den Verkehr einzufädeln. Er hatte es nicht allzu eilig, pendelte sich auf einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern ein. Ob seine Mutter nun auch über diesen
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