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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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roch die Dekadenz, die der glühend heiße Sommer dem Land vermacht hatte.
    Der September war atemberaubend schön gewesen, und ohnehin
liebte sie den Herbst hier besonders. Manchmal fragte sie sich, weshalb sie so beharrlich jedes Jahr Anfang Oktober nach Paris abreiste, obwohl es keinerlei Verpflichtungen dort für sie gab. Vielleicht brauchte sie das Korsett eines strukturierten Jahresablaufs, um sich nicht im Gefühl der Realitätslosigkeit zu verlieren. Im Oktober spätestens kehrten alle in die Städte zurück. Vielleicht wollte sie zugehörig sein, auch wenn sie sich in ihren schwarzen Stunden oft bitter für diesen vorgegaukelten Sinn in ihrem Leben anklagte.
    Sie trat auf den Gang hinaus, verzichtete jedoch darauf, das Licht anzuschalten. Falls Bernadette schlief, sollte sie nicht geweckt werden. Die Tür zum Kinderzimmer war nur angelehnt, vorsichtig lauschte sie in den Raum hinein. Das Kind atmete tief und gleichmäßig.
    Sie hat mich jedenfalls nicht geweckt, dachte sie.
    Unschlüssig stand sie auf dem Flur. Sie begriff nicht, was sie unterbewußt so beunruhigte. Sie wachte so oft nachts auf, sie konnte eher jene Nächte als Besonderheit werten, in denen sie durchschlief. Meist wußte sie nicht, was sie hatte aufschrecken lassen. Weshalb war sie in dieser Nacht nur so nervös?
    Tief in ihr lauerte Angst. Eine Angst, die ihr Gänsehaut verursachte und ihre Sinne auf eigentümliche Art schärfte. Es war, als könne sie irgendeine in der Dunkelheit wartende Gefahr wittern, riechen, fühlen. Als sei sie ein Tier, das das Herannahen eines anderen Tiers spürt, das ihm gefährlich werden kann.
    Jetzt werde nicht hysterisch, rief sie sich zur Ordnung.
    Es war nichts zu hören.
    Und doch wußte sie, daß jemand anwesend war, jemand außer ihr und ihrem Kind, und dieser Jemand war ihr schlimmster Feind. Die Einsamkeit des Hauses kam ihr in den Sinn, sie war sich bewußt, wie allein sie beide hier waren, daß niemand sie hören könnte, falls sie schrien, daß niemand es bemerken würde, wenn etwas Ungewöhnliches hier vor sich ginge.

    Es kann keiner in das Haus hinein, sagte sie sich, überall sind die Läden verschlossen. Die Stahlhaken zu zersägen würde einen Höllenlärm veranstalten. Die Türschlösser sind stabil. Auch sie zu öffnen kann nicht lautlos funktionieren. Vielleicht ist draußen jemand.
    Es gab nur einen, von dem sie sich vorstellen konnte, daß er nachts um ihr Haus herumschlich, und bei diesem Gedanken wurde ihr fast übel.
    Das würde er nicht tun. Er ist lästig, aber nicht krank.
    Doch in diesem Moment wurde ihr klar, daß er genau das war. Krank. Daß sein Kranksein es gewesen war, was sie von ihm fortgetrieben hatte. Daß sein Kranksein sie an ihm gestört hatte. Daß es jene sich langsam verstärkende, instinktive Abneigung ausgelöst hatte, die sie sich die ganze Zeit über nicht wirklich hatte erklären können. Er war so nett. Er war aufmerksam. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Sie war bescheuert, ihn nicht zu wollen.
    Es war Überlebensinstinkt gewesen, ihn nicht zu wollen.
    Okay, sagte sie sich und versuchte tief durchzuatmen, wie es ihr ein Atemtherapeut in der ersten furchtbaren Zeit nach Jacques’ Tod beigebracht hatte, okay, vielleicht ist er da drau-βen. Aber er kann jedenfalls nicht hier herein. Ich kann mich ruhig ins Bett legen und schlafen. Sollte sich morgen irgendwie herausstellen, daß er da war, jage ich ihm die Polizei auf den Hals. Ich erwirke eine einstweilige Verfügung, daß er mein Grundstück nicht betreten darf. Ich fahre nach Paris. Falls ich Weihnachten hier verbringe, kann schon alles ganz anders aussehen.
    Entschlossen kehrte sie in ihr Zimmer zurück.
    Doch als sie wieder im Bett lag, wollte die Nervosität, die ihren Körper vibrieren ließ, nicht aufhören. Noch immer waren alle Härchen auf ihrer Haut hoch aufgerichtet. Sie fror jetzt, obwohl es sicher an die zwanzig Grad warm war im Zimmer. Sie zog die Decke bis zum Kinn, und eine Hitzewallung machte
ihr das Atmen schwer. Sie stand dicht vor einer Panikattacke, die sich bei ihr immer mit einem fliegenden Wechsel zwischen Hitze und Kälte ankündigte. In der Zeit, in der Jacques starb und auch danach hatte sie oft solche Anfälle erleiden müssen. Seit ungefähr einem Jahr war sie frei davon. Zum erstenmal wurde sie nun wieder von den immer noch vertrauten Symptomen heimgesucht.
    Sie fuhr mit den Atemübungen fort, die sie vorher draußen im Gang begonnen hatte, und oberflächlich wurde sie ruhiger,
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