Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
imaginären Punkt auf der Wand hinter ihm.
    »Mario und ich besuchten ihn, sooft es uns erlaubt wurde«, fuhr sie fort. »Es ging ihm sehr schlecht. Er
wirkte depressiv, versunken in Hoffnungslosigkeit. Er vermißte seinen Bruder, ihn vor allem, aber auch mich, seinen Vater, sein Zuhause. Es war furchtbar, mitzuerleben, wie er förmlich ertrank in seinem Schmerz. Er sah nirgendwo Licht. Er wußte nicht, was über ihn gekommen war, als er das Mädchen zu töten versucht hatte. Sie muß versucht haben, ihn an jenem Abend zu verführen, und das hat er nicht ertragen. Er sagte immer, er habe gedacht, sie sei anders. Irgendwie verstand er nicht, wofür er eigentlich bestraft wurde. Er sah sich als Opfer, nicht sie. Das stürzte ihn in diese Verzweiflung. Er fühlte sich unverstanden und ungerecht behandelt. Wir sprachen natürlich mit dem Professor darüber. Er beruhigte uns, das sei ganz normal am Anfang, viele fielen zunächst in ein schwarzes Loch. Aber es wurde und wurde nicht besser. Es wurde schlimmer. Und er sprach immer häufiger von Selbstmord.«
    »Ich verstehe«, sagte Andrew. Er hatte zu diesem Zeitpunkt, im Unterschied zu später, noch das Bedürfnis, ihr Verständnis entgegenzubringen.
    »Nach etwa zwei Jahren war es so schlimm geworden, daß ich überzeugt war, er würde nun bald Ernst machen. Ich spürte es. Er würde kein halbes Jahr mehr in dieser Klinik am Leben bleiben. Der Professor nahm das Problem durchaus ernst, aber er hatte nicht wirklich Angst. Ich glaube, er hielt es für ausgeschlossen, daß jemandem in seiner Klinik ein Suizid gelingen könnte. Sie waren perfekt in ihren Sicherheitsvorkehrungen, und wenn Echinger mich fragte, wie Maximilian das meiner Ansicht nach anstellen wolle, wußte ich keine Antwort. Aber ich war und bin überzeugt, daß ein entschlossener Mensch an jedem Ort der Welt einen Weg findet, sich das Leben zu nehmen, und Maximilian war entschlossen. Er war so entschlossen, wie man nur sein kann.«

    Janet machte eine Pause. Andrew barg das Gesicht in den Händen. Er wußte, was nun kam.
    »Mario und ich, wir konnten an nichts anderes mehr denken. Natürlich sprachen wir auch oft darüber, was in Maximilian diesen Haß auf Frauen ausgelöst haben konnte. Der Professor vermied immer jegliche Schuldzuweisung in meine Richtung, aber Mario erzählte mir, daß er und sein Bruder... sie haben uns immer zugesehen, Andrew, früher, und Mario erzählte, es sei die Hölle gewesen. Er konnte sich an jede Einzelheit erinnern, sagte aber, daß Maximilian, wenn er mit ihm darüber sprechen wollte, sich kaum erinnerte. Er muß es verdrängt haben, aber vielleicht ist er gerade deswegen krank geworden. Ich..:«
    »Das ist absurd, Janet. Was immer die beiden gesehen haben... ich meine...« Er fühlte sich angegriffen und verärgert. Großer Gott, sie waren nicht gerade mit Messern aufeinander losgegangen, oder? »Millionen Kinder sehen so etwas«, sagte er schließlich. »Ich bin überzeugt, der Professor hat dir auch gesagt, daß...«
    »Daß es Hunderte von Bausteinen gibt, die zu einer Krankheit führen können, ja. Sogar... angeborene Schädigungen. Aber ich bin überzeugt, daß ich ganz entschieden ein solcher Baustein war. Ich trug einen Großteil der Schuld. Ich... ich konnte ihn nicht einfach sterben lassen.« Sie holte tief Luft. »Wir hatten Angst. Wenn das Telefon klingelte, schraken Mario und ich zusammen. Wir glaubten immer, daß... Und wir fühlten, es konnte jeden Moment passieren. Mario spürte es noch stärker als ich. Die beiden waren einander immer so nahe. Jeder wußte, was im anderen vorging.«
    Andrew nickte. »Ihr saht nur noch einen Ausweg«, vermutete er.
    »Er mußte von dort weg«, sagte Janet.

    »Und...«
    »Und die einzige Möglichkeit war die, daß beide tauschten. Es war nicht schwer, kein Mensch hat sie jemals auseinanderhalten können, außer mir. Mario blieb von nun an in der Klinik. Und Maximilian kam mit mir nach Hause.«
    »Ich kann es kaum glauben«, sagte Andrew. »Ich meine, abgesehen von allem anderen kann ich kaum glauben, daß ein Bruder das für den anderen tut. Sich über Jahre in einer psychiatrischen Klinik einsperren läßt...«
    »Niemand, der sie nicht kennt, kann es verstehen. Sie waren ein Wesen, eine Identität. Ein Teil von ihnen mußte in der Klinik sein, und es war gleichgültig, welcher Teil das auf sich nahm. Im Grunde tauschten sie nur einfach ihre Namen. Mario war jetzt Maximilian, und Maximilian war nun Mario. Aber die Namen waren
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher