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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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DONNERSTAG, 25. MAI 1995
    Das Ringlestone Inn war, wie der Wirt stolz erklärte, im Jahre 1533 erbaut worden und diente seit dem 17. Jahrhundert als Pub - und seither hatte sich kaum etwas darin verändert. Die niedrige Decke wurde von schweren, rußgeschwärzten Eichenholzbalken getragen, bleigefaßte Butzenglasscheiben setzten sich zu winzigen, in die dikken, weiß gekalkten Mauern eingelassenen Fenstern zusammen. Ein gewaltiger gemauerter Kamin empfing die Gäste gleich am Eingang mit einem prasselnden Feuer. Um von einem Raum in den nächsten zu gelangen, mußte man den Kopf einziehen und darauf achten, nicht über unvermutet auftauchende Stufen oder Bodenleisten zu stolpern. Bänke, Stühle und Tische standen dicht gedrängt, uralte Lampen schaukelten von der Decke. Niemand hätte sich ernsthaft gewundert, wäre plötzlich Oliver Cromwell hereingestapft, in Stulpenstiefeln und mit Federhut, im wehenden, schwarzen Mantel, mit wachsamem Blick, mißtrauisch, ob sich Royalisten in einem Winkel des Hauses versteckt hielten.
    Auf dem Platz neben dem Haus sollten Pferde stehen, nicht Autos parken, dachte Janet, sie würden weit besser hierher passen.
    Schon die ganzen letzten Stunden war sie sich vorgekommen wie in ein weit zurückliegendes Jahrhundert versetzt. Sie war von London hergefahren, hatte die Straße Richtung Dover jedoch kurz vor Rochester verlassen
und war nach Süden abgebogen. Der Weg führte sie durch idyllische, vom Fortschreiten der Zeit scheinbar vergessene Dörfer, vorbei an stillen, verträumten Häusern aus elisabethanischer Zeit, die umgeben waren von moosbewachsenen, bröckeligen Mauern, entlang zugewucherter Gärten, deren Bäume über die holprige Straße hinweg Dächer aus Blättern und Zweigen bildeten. Irgendwann zeigten ihr die Schilder an, daß sie bald an der Küste landen würde, und gleichzeitig wurde ihr bewußt, daß sie seit dem knapp bemessenen Imbiß im Flugzeug am Morgen nichts mehr gegessen hatte. Sie beschloß, abseits von der Hauptstraße ein wenig kreuz und quer herumzufahren und die Augen nach einem Gasthaus offenzuhalten. Der Maiabend war hell; der Himmel war, nach einem Tag voller Regen, plötzlich leergefegt von allen Wolken und sandte eine Flut von Sonne über das feuchte, dampfende Land. Janet hatte Kent immer gemocht, sich aber selten so verzaubert gefühlt wie an diesem Abend. Ihre Sorgen hatten sich mit den Wolken aufgelöst. Für einige Stunden war sie eine Frau ohne Vergangenheit oder Zukunft, ohne Verpflichtungen, ohne Bindungen. Niemand wußte, wo sie war, niemand konnte etwas von ihr erwarten oder verlangen.
    Als sie vor dem Ringlestone Inn hielt und aus dem Wagen stieg, fröstelte sie in der frischen Abendluft und hatte sich dennoch in ihrem Innern lange nicht mehr so warm gefühlt.
    »Sie möchten sicher nach Folkstone?« fragte der Wirt. Janet schüttelte den Kopf. »Nein. Ich fahre wahrscheinlich heute noch nach London zurück.« Sie strich sich mit beiden Händen über die nackten Arme und wies mit einer Kopfbewegung auf den leeren Tisch vor dem Kamin. »Darf ich mich da hinsetzen?«
    »Selbstverständlich.« Eifrig rückte ihr der Wirt einen
Stuhl zurecht. Janet nahm Platz. Es herrschte eine brütende Hitze am Feuer, sie würde es kaum länger als eine halbe Stunde dort aushalten, aber sie konnte ihre Knochen aufwärmen, und vielleicht trockneten ihre noch immer regenfeuchten Schuhe. Sie ließ den Blick umherschweifen und stellte fest, daß sich wohl vorwiegend Leute aus den umliegenden Dörfern hier aufhielten; ältere Männer, die Bier tranken, politisierten, über die nächste Ernte fachsimpelten. Niemand beachtete Janet. Das wohlige Gefühl der Entspanntheit verstärkte sich. Sie bestellte Huhn mit Reis und ein Glas Ginger Ale und machte sich darüber her wie eine Verhungernde. Sie ließ keinen Krümel auf dem Teller zurück, und als sie fertig war, verzehrte sie zum Nachtisch noch ein Stück Kuchen. Seit Jahren litt sie an Eßstörungen, mußte häufig erbrechen, aber sie spürte, daß sie dies heute nicht zu fürchten brauchte. Sie würde alles bei sich behalten.
    Als sie ihren Kaffee trank und dazu eine Zigarette rauchte, gesellte sich der Wirt zu ihr. Er war erpicht auf eine Unterhaltung und leitete sie originellerweise mit einer Bemerkung über das Wetter ein. »War wohl besseres Wetter da, wo Sie herkommen?« fragte er. Janet runzelte die Stirn.
    »Weil Sie so sommerlich angezogen sind«, erklärte er.
    Janet sah an sich hinunter. Kurzärmeliger
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