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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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Baumwollpullover, ein leichter Rock, feuchtfleckige Wildlederschuhe. Sie lachte. »Ich bin heute früh von Hamburg nach London geflogen. In Hamburg war es richtig warm.«
    »Hamburg? Da war mein Vater mal nach dem Krieg!«
    »Wirklich?« sagte Janet. Der Wirt sah sie strahlend an, als hätten sie gerade einen gemeinsamen Urahn ausfindig gemacht. Sie fühlte sich bemüßigt, erklärend hinzuzufügen: »Ich bin aber gebürtige Engländerin.«
    »Wie lange leben Sie schon in Deutschland?«

    »Seit fünfundzwanzig Jahren. Ich habe einen Deutschen geheiratet.«
    Sie erschrak fast bei dieser Auskunft. Ein Vierteljahrhundert! Mit achtzehn war sie fortgegangen. Zu jung, um zu wissen, was sie tat.
    »Und jetzt statten Sie der Heimat einen Besuch ab«, stellte der Wirt fest. »Es ist schön, nach Hause zu kommen, nicht? Sie stammen aus dieser Gegend?«
    »Nein. Ich bin in Cambridge geboren und aufgewachsen. Und heute wollte ich eigentlich nach Edinburgh.«
    »Oh...« Der Wirt zeigte sich überrascht. Es schien ihm eigentümlich, daß jemand nach Edinburgh wollte und statt dessen im Ringlestone Inn zwischen Maidstone und Canterbury im Südosten Englands landete.
    Janet warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »In zehn Minuten startet mein Flugzeug von Heathrow nach Edinburgh«, sagte sie zufrieden.
    »Na, den Flieger erwischen Sie nicht mehr«, meinte der Wirt und lachte etwas verlegen. Ihm ging allmählich auf, daß mit der Frau irgend etwas nicht stimmte. Er hätte nicht sagen können, was ihm dieses Gefühl gab, aber es war etwas an ihr... Sie schien entspannt, aber Angst und Unruhe lagen spürbar auf der Lauer.
    »Na ja«, meinte er unsicher, »es gehen jeden Tag Flüge nach Edinburgh, nicht? Dann fliegen Sie eben morgen.«
    »Ich glaube«, sagte Janet, »daß ich überhaupt nicht fliegen werde.«
     
    Im Grunde hatte sie das schon am Vormittag beschlossen, als sie gegen zehn Uhr in London aus dem Flugzeug stieg. Sie hatte die Flüge absichtlich so gebucht, daß ihr elf Stunden Aufenthalt dazwischen blieben; dann könne sie, hatte sie Phillip, ihrem Mann, erklärt, ein ausgedehntes sightseeing in London einlegen.

    »Als ob du London nicht kennen würdest wie deine Westentasche!« hatte Phillip bemerkt. »Was willst du denn noch anschauen?«
    »Ich war lange nicht mehr da. Ich will einfach London atmen, riechen, fühlen.«
    In Wahrheit wollte sie in den elf Stunden irgendeinen Weg finden, Edinburgh zu vermeiden.
    Aus dem sightseeing wurde nichts, der Regen floß in Strömen und wurde eher heftiger, als daß er nachließ. Janet flüchtete schließlich zu Harrod’s und ließ sich durch die Stockwerke treiben. Sie kaufte Tee, Orangenmarmelade und Cookies für Phillip, eine Swatch-Uhr für Mario. Sie bezahlte ein Pfund, um Zugang zu den luxuriösen Gold- und Marmortoiletten im ersten Stock zu bekommen, und versuchte dort, sich ein wenig frisch zu machen. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigte ihr, daß sie ziemlich zerrupft aussah. Ihre regennassen Haare kräuselten sich zu eigenwilligen Locken, ihr blasses Gesicht hatte jeden Anflug von Farbe verloren. Mit Lippenstift und Rouge polierte sie es etwas auf, aber der verhärmte, sorgenvolle Ausdruck blieb. Um ihrem Kreislauf etwas auf die Beine zu helfen, trank sie in einem Stehimbiß im Keller zwei Gläser Sekt. Danach fühlte sie sich so weit wiederhergestellt, daß sie in der Lage war, zum Flughafen zurückzufahren, ein Auto zu mieten und sich, soweit sie konnte, von der Hauptstadt zu entfernen. Der Linksverkehr bereitete ihr zunächst einige Probleme, aber als sie sich auf der Autobahn befand, wurde es besser, und später, auf den kleinen Landstraßen in Kent, fühlte sie sich schon sehr sicher. Immer wieder murmelte sie vor sich hin: »Ich muß nicht fliegen, wenn ich nicht will. Ich muß überhaupt nichts tun, was ich nicht will!«
    Aber sie wünschte, sie hätte die Souveränität besessen, einfach hinzugehen und den Flug nach Edinburgh zu
stornieren, anstatt sich selbst auszutricksen und etwas zu tun, das sie daran hinderte, pünktlich wieder in Heathrow zu sein. »Immer noch das kleine Mädchen, das keine Verantwortung für sein Tun und Lassen übernehmen will«, murmelte sie unzufrieden vor sich hin.
    Immerhin, ihre Flucht vor der Verantwortung hatte ihr einen schönen Tag beschert. Sie war in England herumgekurvt und hatte ein bezauberndes Pub entdeckt. Dies erinnerte sie an die Zeit mit Andrew. Mit ihm war sie oft ins Blaue losgefahren und dann irgendwo eingekehrt,
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