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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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aber in ihrem Inneren glühte ein rotes Warnlämpchen und ließ sie in Hochspannung verharren. Sie wurde das Gefühl nicht los, daß sie keineswegs Opfer einer Hysterie war, sondern daß ihr Unterbewußtsein auf eine greifbare Gefahr reagierte und ihr ununterbrochen zurief, sie solle aufpassen. Zugleich weigerte sich ihr Verstand, derartige Gedanken zuzulassen. Jacques hatte immer gesagt, es sei Unsinn, an Dinge wie Vorahnungen, Stimme des Bauchs oder dergleichen zu glauben.
    »Ich glaube nur, was ich sehe«, hatte er oft gesagt, »und ich nehme nur an, was sich als Tatsache beweisen läßt.«
    Und ich bin im Moment einfach dabei, durchzudrehen, sagte sie sich.
    Im gleichen Augenblick hörte sie ein Geräusch, und es war vollkommen klar, daß sie es sich nicht eingebildet hatte. Es war ein Geräusch, das sie gut kannte: Es war das leise Klirren, das die Glastür, die Wohn- und Schlafbereich in diesem Haus voneinander trennte, verursachte, wenn sie geöffnet wurde. Sie vernahm es an jedem Tag, den sie hier war, an die hundert Mal, entweder weil sie selbst hindurchging, oder weil Bernadette hin- und herlief.
    Es bedeutete, daß jemand hier war und daß er keineswegs um das Haus herumschlich.
    Er war im Haus.
    Sie war mit einem Satz aus dem Bett.
    Verdammt, Jacques, dachte sie, ohne die Ungewöhnlichkeit
dieses Moments zu beachten, denn es war das erste Mal, daß sie einen kritischen Gedanken ihrem toten Mann gegenüber zuließ, und das auch noch in Gestalt eines Fluchs. Ich wußte vorhin, daß jemand im Haus ist, hätte ich mich darauf doch bloß verlassen!
    Sie konnte ihr Zimmer von innen verriegeln und hätte sich damit vor dem Eindringling in Sicherheit bringen können, aber Bernadette schlief im Nebenzimmer und wie hätte sie sich hier einschließen sollen ohne ihr Kind? Sie stöhnte bei der Erkenntnis, daß ein Instinkt, fein wie der eines Wachhunds, sie geweckt und nach nebenan geführt hatte; sie hätte die Chance gehabt, sich Bernadette zu schnappen und mit ihr Zuflucht in diesem Zimmer zu suchen. Sie hatte die Chance vertan. Wenn er bereits diesseits der Glastür war, trennten ihn nur noch wenige Schritte von ihr.
    Wie hypnotisiert starrte sie ihre Zimmertür an. Jetzt konnte sie, in ihrer eigenen atemlosen Stille, das leise Tappen von Schritten auf dem Flur hören.
    Die Klinke bewegte sich ganz langsam nach unten.
    Sie konnte ihre Angst riechen. Sie hatte nie vorher gewußt, daß Angst so durchdringend roch.
    Ihr war jetzt sehr kalt, und sie hatte den Eindruck, nicht mehr zu atmen.
    Als die Tür aufging und der Schatten des großen Mannes in ihrem Rahmen stand, wußte sie, daß sie sterben würde. Sie wußte es mit derselben Sicherheit, mit der sie kurz zuvor gespürt hatte, daß sie nicht allein im Haus war.
    Einen Moment lang standen sie einander reglos gegenüber. War er überrascht, sie mitten im Zimmer stehend anzutreffen, nicht schlafend im Bett?
    Sie war verloren. Sie stürzte zum Fenster. Ihre Finger zerrten an den Haken der hölzernen Läden. Ihre Nägel splitterten, sie schrammte sich die Hand auf, sie bemerkte es nicht.
    Sie erbrach sich vor Angst über die Fensterbank, als er dicht
hinter ihr war und sie hart an den Haaren packte. Er bog ihren Kopf so weit zurück, daß sie in seine Augen blicken mußte. Sie sah vollkommene Kälte. Ihre Kehle lag frei. Der Strick, den er ihr um den Hals schlang, schürfte ihre Haut auf.
    Sie betete für ihr Kind, als sie starb.
     
     
     
     
     
     
     
    Samstag, 6. Oktober 2001
I
    Kurz vor Notre Dame de Beauregard sah er plötzlich einen Hund auf der Autobahn. Einen kleinen, braunweiß gefleckten Hund mit rundem Kopf und lustig fliegenden Schlappohren. Er hatte ihn zuvor nicht bemerkt, hätte nicht sagen können, ob er vielleicht schon ein Stück weit am Fahrbahnrand entlang getrabt war, ehe er das selbstmörderische Unternehmen begann, auf die andere Seite der Rennstrecke zu wechseln.
    O Gott, dachte er, gleich ist er tot.
    Die Autos schossen hier dreispurig mit Tempo 130 dahin. Es gab kaum eine Chance, unversehrt zwischen ihnen hindurch zu gelangen.
    Ich will nicht sehen, wie sie ihn gleich zu Matsch fahren, dachte er, und die jähe Angst, die in ihm emporschoß, löste eine Gänsehaut auf seinem Kopf aus.
    Ringsum bremsten die Autos. Niemand konnte stehen bleiben, dafür fuhr jeder mit zu hoher Geschwindigkeit, aber sie reduzierten ihr Tempo, versuchten, auf andere Spuren auszuweichen. Einige hupten.
    Der Hund lief weiter, mit hoch erhobenem Kopf. Es
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