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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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habe riesiges Glück gehabt. Sonst müßte ich jetzt unter meiner Schuld zusammenbrechen.«

    »Aber...«
    »Dana hat etwas bemerkt, nicht? Sie sprach als erste davon, daß ihr Mario unheimlich vorkomme. Das ist etwas, was Sie ihr gegeben haben, Karen: Erfahrung und einen Blick für die Realität. Sie war weit besser gerüstet für das Leben als Tina, aber sie hatte Pech. Natürlich, sie war zu leichtsinnig. Aber wohin hat Tina ihre Vorsicht geführt? Karen«, er klang jetzt fast verzweifelt, »können Sie es nicht sehen? Es hat keinen Sinn, jetzt nach Schuld zu suchen. Ganz gleich, was wir tun oder was wir nicht tun, es kommt der Punkt, da sind wir nicht mehr verantwortlich für das, was geschieht. Da können wir es gar nicht mehr sein. Das Leben folgt weit widersprüchlicheren Gesetzen als denen, in die wir es zu zwingen versuchen.«
    Einen ersten, winzigen, kaum merkbaren Anflug von Trost meinte er auf ihrem Gesicht zu entdecken. Er zog sie wieder an sich, und sie weinte. Er aber wußte noch nicht, daß in ihm, während er dort auf den kalten Fliesen in dem stinkenden Bad kauerte, zaghaft ein neuer Mensch geboren wurde; ein Mensch, der wieder fähig war zu fühlen, Mitleid zu empfinden, Andersartigkeit zu ertragen, weich zu sein und zärtlich. Der sich dem Leben wieder zu öffnen vermochte.
     
     
    Phillip überwand sich erst am späten Nachmittag, bei Professor Echinger anzurufen, um ihn von Maximilians Tod zu unterrichten. Irgend jemand, dachte er, muß es schließlich tun. Wie sich herausstellte, hatte aber die Polizei Echinger bereits informiert, und er war erschüttert und entsetzt.
    »Er wurde erschossen, hat man mir gesagt. Ist das richtig? Wissen Sie, ich kann es kaum glauben!«
    »Es stimmt. Ein Polizeibeamter erschoß ihn, weil er annahm, er sei gerade im Begriff, ein junges Mädchen als
Geisel zu nehmen«, entgegnete Phillip. Er unterschlug die Tatsache, daß es sich bei dem Polizeibeamten um den Liebhaber seiner Frau gehandelt hatte; dieses Thema mußte er dem Professor gegenüber nicht schon wieder anschneiden. Echinger gehörte zu jenem Teil seines Lebens, den er nun abgeschlossen hatte und so schnell als möglich vergessen wollte.
    »Es ist furchbar. Es ist so furchtbar«, sagte Echinger. Er klang aufrichtig verzweifelt.
    Wie stark bindet sich ein Therapeut an seine Patienten? fragte sich Phillip. In sechs Jahren täglicher Gespräche. Es muß eine ganz eigene, intensive Beziehung sein.
    »Sie wissen vielleicht, daß auch mein anderer Sohn...«, sagte Phillip.
    »Ich weiß. Es ist eine Tragödie. Bitte glauben Sie mir, in diesen Tagen gehört meine ganze Anteilnahme Ihnen und Ihrer Frau. Ich... ich kann an gar nichts anderes denken.« Der Professor stockte, fügte dann leise hinzu: »Es tut mir sehr, sehr leid.«
    Es hörte sich an wie eine Entschuldigung, und einen Moment lang fragte sich Phillip, wofür der Arzt sich glaubte entschuldigen zu müssen. Doch dann ging ihm auf, daß Echinger sich die Schuld an Maximilians Flucht gab - vermutlich weniger wegen der mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in der Klinik, denn als Freigänger hätte Maximilian so oder so verschwinden können, als vielmehr wegen der Tatsache, daß der Patient einfach davonlief, anstatt sich an den Therapeuten zu wenden. Eine Ohrfeige nach sechs Jahren Bemühungen um den Aufbau von Vertrauen. Phillip stellte das mit einiger Befriedigung fest.
    »Was ich einfach nicht zu fassen vermag, ist, daß bei Mario plötzlich das gleiche Krankheitsbild auftrat wie bei seinem Bruder«, fuhr Echinger fort, »daß beide...«

    Er sprach nicht weiter, aber Phillip konnte durch den Apparat hindurch förmlich spüren, wie er tief verwundert den Kopf schüttelte. Da er nicht die geringste Lust hatte, den »Fall Mario« mit dem Professor zu diskutieren, sagte er nur: »Ja, niemand hätte das gedacht!« und legte nach einem gemurmelten Gruß, dessen Erwiderung er nicht abwartete, den Hörer auf.
    Fertig. Aus. Er hatte der Höflichkeit Genüge getan, nun war Schluß. Nie wieder ein Psychiater, nie wieder Echinger, nie wieder diese Klinik. Nie wieder zermürbende Gespräche mit der weinenden Janet: »Ich bin schuld, daß das mit dem Jungen passiert ist. Weil ich ihn enttäuscht habe. Was haben die Kinder in mir gesehen, und dann mußten sie miterleben, wie ich und Andrew...«
    Hatte sie eigentlich irgendwann einmal darüber nachgedacht, was es ihn kostete, mit ihr darüber zu sprechen? Sie zu beruhigen? »Janet, auch Echinger sagt, daß, egal, was
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