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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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Zwillingsbruder zu hören; verwirrend fand er jedoch, daß sich beide Brüder in der Provence aufgehalten hatten - der eine saß doch in einer geschlossenen Klinik! - und daß auch Marios Mutter dazugestoßen war, und das noch in Begleitung eines Beamten von Scotland Yard.
    Was tut Scotland Yard in der Provence? fragte er sich erstaunt, aber es würde die Zeit kommen, all diese Dinge zu klären.
    »Liebling, Tina, ich werde, so bald ich nur kann, zu dir kommen«, sagte er, aber Tina meinte, vielleicht könne sie selbst auch schon bald wieder nach Hause, sie müsse mit dem Arzt sprechen und mit dem Beamten, der sie vernommen habe.
    »Ich ruf ’ dich ganz bald wieder an«, versicherte sie. »Jetzt ist gleich mein Geld...« Und da schepperte es auch schon, und das Gespräch brach ab.
    Michael blieb noch eine Weile mitten im Zimmer neben dem Telefon stehen und gab sich dem beglückenden Empfinden einer überströmenden Erleichterung hin. Er schämte sich, daß er hier stehen und sich so unendlich viel besser fühlen konnte, während im Nebenzimmer eine Frau schlief, deren Tochter ermordet worden war, aber er
konnte nichts gegen diese Aufwallung von Glück und Dankbarkeit tun. Er sank schließlich auf das Sofa und stützte den Kopf in die Hände, und so saß er, bis er Karen hörte, die mit schweren, langsamen Schritten ins Bad tappte. Es war halb sieben. Er erhob sich, ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf.
    Als sie dann beide im Wohnzimmer saßen, Karen noch etwas benommen von den Tabletten, aber bereits wieder gnadenlos konfrontiert mit ihrem Schmerz, da berichtete er ihr vorsichtig von Tina. Sie reagierte mit einer liebenswerten Größe, die er nicht erwartet hatte.
    »Ich freue mich, wirklich, Gott sei Dank. Es ist schön, daß es wenigstens Tina gutgeht.«
    Dann verfiel sie wieder in Selbstvorwürfe, und später nahm sie noch eine Beruhigungstablette, nachdem sie gestöhnt hatte: »Ich kann es nicht ertragen, Michael, ich kann es nicht ertragen!«
    Sie schlief noch etwas, während Michael ein wenig aufräumte und dem tagealten Berg schmutzigen Geschirrs in der Küche zu Leibe rückte. Als Karen aufwachte, ging es ihr sehr schlecht, sie klagte über Übelkeit und Kopfschmerzen.
    »Sie müssen unbedingt etwas essen«, sagte Michael. Sie hatte nach einer weiteren Tablette verlangt, aber er zögerte, sie ihr zu geben. »Kein Wunder, daß Ihnen schlecht ist, bei den vielen Pillen auf nüchternen Magen!«
    »Ich kann nichts essen.«
    Er hatte im Kühlschrank nur etwas angesäuerte Milch und ein paar Eier entdeckt, die seit Urzeiten da drin sein mochten. Als er sich erbot, einkaufen zu gehen, schüttelte sie fast panisch den Kopf. »Nein! Lassen Sie mich nicht allein! Bitte lassen Sie mich nicht allein!«
    Dann sprang sie auf, rannte ins Bad und erreichte gerade noch die Toilette. Zusammengekrümmt auf den Fliesen
kauernd, erbrach sie sich zitternd und würgend, wieder und wieder. Michael war ihr gefolgt, er hielt ihren Kopf und sprach beruhigend auf sie ein, und später kniete er neben ihr nieder und nahm sie in die Arme. Um sie herum stank es nach Erbrochenem und nach Schweiß. Karen vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, geschüttelt vom Weinen.
    »Meine Schuld«, flüsterte sie schluchzend, »meine Schuld...«
    Er schob sie ein Stück von sich weg und sah sie sehr ernst und eindringlich an, blickte in ihr blasses, häßliches Gesicht, umgeben von den roten Stoppelhaaren. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte ihr vorsichtig den Mund ab, während er sagte: »Karen, jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe heute nacht dagesessen und über Schuld nachgedacht, genau wie Sie. Karen, ich habe meine Tochter beschützt und behütet und abgeschirmt vor der Welt, im besten Glauben und in der besten Absicht, aber was habe ich aus ihr gemacht? Eine junge Frau, so naiv, so unerfahren, so weltfremd, daß sie überhaupt nicht bemerkte, daß mit diesem Mario etwas nicht stimmte!«
    Er ließ das Taschentuch sinken. Karen weinte noch etwas, aber an ihren Augen konnte er erkennen, daß sie ihm zuhörte.
    »Ich habe nicht alles begriffen, was sie mir heute früh am Telefon erzählte«, fuhr er fort, »aber offensichtlich hatte sie sich in die Hände eines Geisteskranken begeben. Wahrscheinlich wäre es verdammt viel besser gewesen, sie hätte schon früher einen Freund gehabt, oder mehrere, denn dann hätte sie mehr gewußt vom Leben und von den Menschen und hätte die verdächtigen Anzeichen erkannt. Verstehen Sie, Karen, ich
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