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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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kariertem, aus einem Schulheft herausgerissenen Papier niedergeschrieben hatte. Der Junge ließ mich wissen, dass alles »bei vollem Verstand und Bewusstsein« geschrieben worden war. Vaters charakteristische, etwas ausgeschmückte Unterschrift besiegelte den Willen des Verfassers. Auf einem separaten Stück Papier musste ich bezeugen, dass mir das Testament persönlich übergeben worden war, vor einem Zeugen, im Sanatorium. Ich musste mich verpflichten, die anderen Familienmitglieder, namentlich Mutter und meinen jüngeren Bruder, davon in Kenntnis zu setzen und das Ganze bei Gericht beglaubigen zu lassen. Der Wortlaut seines Letzten Willens war: »Bestattung – egal wo, egal zu welcher Zeit, geheim oder öffentlich, jedes Symbol ist erlaubt, nur nicht der fünfzackige Stern. Der Sarg kann aus Holz, Karton, Metall oder aus Angelruten sein, von mir aus auch nur überdacht, schwarz oder weiß. Kleidung – kann ruhig die Krankenhauskleidung oder auch Abgetragenes sein. Zeremonie – ohne Zeremonie. Klägern und Priestern ist der Zutritt zum Friedhof verboten. Geld, Landbesitz, fruchtbares Land, Häuser, Haine, Weideland, Gelände, persönliche Gegenstände, Schmuck – gleich null! Der jüngere Sohn hat die Pflicht, sich um seine Mutter zu kümmern, der ältere ist ein freier Mann. Der Tod hat eine Lieblingsspeise – mein Fleisch, mit Würmern gefüllt.«
    Das Vorlesen war schnell erledigt, wir waren in guter Stimmung, als habe es sich um eine unterhaltsame Lektüre gehandelt. Vaters Gesicht strahlte vor Freude; schon als junger Mann liebte er es, über den Tod zu reden, immer wenn die Rede auf dieses Thema kam, wurde er wach und lebendig, und von ihm habe ich diesen leichten Blick auf den Tod und die Obsession geerbt, in ihm etwas Heiteres zu suchen. Und deshalb dachte ich humorvoll seinen Letzten Willen weiter, schlug vor, das Testament um einen Passus zu erweitern, für den Fall, dass sich Söhne und Ehefrau entschließen sollten, ihm ein Grabmal zu setzen. Der Name des Verstorbenen durfte darauf genauso wenig wie Geburts- und Sterbedatum vorkommen. Mit in Gold gemeißelten Buchstaben sollte darauf nur zu lesen sein: Mach die Kerze nicht an, es ist spät . Und am Ende: Das Grabmal ließen dankbar seine Söhne und seine Ehefrau errichten. Er nahm meine Idee freudig auf und bat den Jungen, diese Ergänzung anzufügen, aber ohne das Wort dankbar zu benutzen. Diese Friedhofssprache sei bombastisch in ihrer Verlogenheit, typisch für die Geistlosigkeit, in der echtes Mitgefühl fehle.
    Die ausgelassene Stimmung an unserem Tisch hatte in der Zwischenzeit den Fotografen angelockt, er ging mehrmals um uns herum und wartete darauf, dass wir ihn zu uns riefen. Da wir keinerlei Anstalten dazu machten, sprang er irgendwann von allein zu uns und nahm seine dunkle Sonnenbrille von der Nase, hob den Fotoapparat in Augenhöhe und betrachtete uns kurz durch sein Objektiv. Unser Fotograf Mijo strahlte verführerisch und war ein Süßholzraspler. »Da machen wir doch mal ein Foto fürs Erinnerungsalbum«, sagte er und rannte um unseren Tisch herum, auf der Suche nach dem besten Licht. »Diesen Augenblick müssen wir doch verewigen, denn, meine Lieben, in fünf Minuten ist alles schon wieder vorbei. Wir alle leben von Erinnerungen. Mein verstorbener Vater hat immer gesagt: Erinnerungen und schmerzfreies Pinkeln, das ist alles, was man am Ende eines Lebens erwarten kann. Und was sagt unser Anwärter auf den Tod hier?«, sagte er und beugte sich ein wenig in Richtung meines Vaters.
    » Lentraj se – Na, lass es endlich blitzen, drück ab!«, sagte mein Vater fröhlich und hob die Arme in die Höhe.
    Diese Geste kannte ich gut von ihm, sie erinnerte mich an die Zeit, wenn er in den Wirtshäusern einen Arm oder beide Arme in die Höhe hob, um eine neue Runde Getränke zu bestellen. Der Fotograf erledigte seine Arbeit schnell, sprang zwischen und um uns herum, drückte zwei, drei Mal auf den Auslöser, nahm einen Block in die Hand, schrieb uns eine Quittung aus und sagte, »bezahlen könnt ihr, wenn die Ware da ist«, tippte sich zum Abschied schnell mit dem Finger auf die Stirn und machte sich davon. Den Ausdruck lentraj se hatte ich seit vielen Jahren nicht mehr gehört, ich lächelte, sagte zu meinem Vater, das sei ein Lehnwort aus dem Romanischen, das so archaisch klinge, dass es kaum noch gebraucht werde.
    »Warum hast du es benutzt?«
    »Weiß ich auch nicht. Es kam einfach so.«
    Ich hatte mir nicht vorstellen können, mit meinem
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