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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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ihm gelernt habe. Dann machte er nach dem Einwurf und dem damit thematisierten Abschied einfach mit dem Jungen weiter, der die ganze Zeit über mit uns am Tisch sitzen geblieben war. Er nannte ihn »mein Augenlicht«, weil er ihm Bücher vorlas. Das verbinde sie jetzt miteinander, sagte er. »Der Engel fürchtet jetzt um seinen Zuhörer, hat Angst, dass er ihm unter der Hand wegsterben könnte, und ich fürchte mich davor, dass mein Vorleser wieder gesund wird und man ihn nach Hause schickt.« Seitdem das Lesen sie zueinander geführt hatte, waren sie ein Herz und eine Seele. »Wir sind so sehr verbunden, dass er mir sogar schweigend vorlesen könnte – ich verstünde jedes seiner Worte«, sagte er.
    Der Junge hielt noch immer seinen Finger auf der Seite, auf der er mit dem Lesen aufgehört hatte, er wollte weitermachen. Da ich schon der Störenfried war, blieb ich es auch und klappte sein Buch zu, um den Titel sehen zu können, und sagte zu ihm, man merke sich so etwas nicht mit dem Finger, sondern mit dem Auge, er müsse visuell denken, sich ganz schnell, durch die Wimpern hindurch, die Seitenzahl, den Abschnitt, die Zeile usw. merken, müsse so am geheimnisvollen Punkt dranbleiben, zu dem man lesend vorgedrungen war, denn so würde er von selbst beim Öffnen des Buches wieder sichtbar für ihn werden. »Denn so wie du das Lesen ersehnst, so wollen auch die Bücher von dir gelesen werden«, sagte ich. Der Junge lachte und sagte liebevoll und mit zärtlicher Engelsstimme: »Wir haben schon 97 Bücher zusammen gelesen, manche sogar zweimal.« Das Buch, das sie jetzt vor sich hatten, trug den Titel Balkan-Memoiren von Martin Đurđević, es war 1910 erschienen und in einer altertümlichen Sprache geschrieben. »Wir lesen es Gramm für Gramm«, sagte der Junge. Sie wollten sich nicht von dem Buch trennen. »Es ist ein gutes Buch«, sagte mein Vater, »wie ein schönes Mädchen.« Ich wusste nichts über dieses Buch, erfuhr aber in diesem Gespräch ein wenig darüber. Mein Vater und der Junge wechselten sich ab, erzählten mir die Geschichte, die Herzegowina diente offenbar immer als blutiger Schauplatz, an dem sich Menschen gegenseitig abschlachteten und wo man politische Uneinigkeiten austrug, indem man sich gegenseitig in Stücke schnitt, sodass man irgendwann die körperlichen Überreste in Leintücher sammelte und so zu Grabe trug. Der Junge las auch mir einen Abschnitt aus diesem Buch vor, er konnte es kaum erwarten, von mir dazu ermuntert zu werden, denn er wollte mir zeigen, dass er gut lesen konnte, und er las sehr selbstbewusst, mit klangvoller Stimme, ohne irgendein Zögern. Der Passus aus diesen Memoiren, den er mir vorlas, handelte von den Plünderungen auf dem Hof des Mufti Karabeg. Es passte zu dem, was mein Vater immer erzählt hatte, bestätigte seine Vorstellung vom Menschen, der mit Genuss das Böse sucht, weil er es ohne Mühe haben kann, Edelmut hingegen macht einem immer Arbeit. »Wenn der Mensch das Böse vergisst, dann kommt es von alleine und macht sich wieder bemerkbar«, sagte mein Vater oft.
    Da dieses Buch nicht nur eine Beichte, sondern vor allem auch eine Familienchronik ist, habe ich mir einen Satz von ihm geborgt. »Lesen lässt sich alles, auch die Baumrinde, auch eine Hand, in der die Worte eines Gebets niedergeschrieben sind.« Das Gespräch mit meinem Vater im Krankenhaus war wertvoll für mich; ich konnte es für diesen Zweck zu Protokoll nehmen. Ich kann nicht behaupten, dass ich viel über meine Wurzeln gewusst habe, aber konnte mich vielleicht gerade deshalb immerhin noch wundern. Vater erzählte an jenem Sonntag, dass sein Großvater Anto nach einem ereignisreichen Leben voller Abenteuer plötzlich nach L. zurückgekehrt. Er hatte dem Herzog Don Ivan Musić treu gedient, der sich nun den neuen Machthabern unter keinen Umständen unterordnen wollte, er lehnte jede Ehrung des Bistums ab, wollte auch keine Stellung mehr einnehmen, die ihm vom Baron und Feldmarschallleutnant Jovanović angeboten wurde. Allerdings war dies auch an die Bedingung geknüpft, dass er bei der Katholischen Kirche um Vergebung bitten und sich von seinen Verbrechen als »Ustaša-Herzog« freikaufen musste. Don Musić erbat sich eine Woche Bedenkzeit, er wollte nach Stoc gehen, um sich dort zu sammeln, bewachen sollte ihn mein Urgroßvater Anto. Aber Don Musić überrumpelte seinen Wächter. In Stoc hatte er eine Geliebte, die seine ganzen geplünderten Schätze bewachte. »Mit ihr, dem Gold und dem Blut an
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