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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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zuhörte, hätte ich beinahe Vati gerufen. Aber dann besann ich mich, meine Zunge wurde schwer, meine Stimme brach mir weg. Ich kam mir plötzlich arglistig, ja geradezu grob vor, fühlte mich wie ein Heuchler, der sich im Kopf eine Idylle zurechtgeschustert hatte, weil die Bilder in seinem Familienalbum mit der Zeit verblichen waren. Von den nostalgischen Erinnerungen war aber kaum etwas übrig geblieben. Sollte ich mich auf die einstige Nähe aus der Kindheit berufen, die es nicht mehr gab? Jemanden umschmeicheln, den ich Jahre nicht gesehen hatte? Eine Verbundenheit vorgaukeln, obwohl uns alles voneinander trennte? All das kam mir dort wie eine Parodie vor. Es hätte alles entstellt und verraten, was einst ehrlich zwischen uns war. Hätte ich Vati geschrien, wäre mein Besuch von Anfang an einem verlogenen Tonfall erlegen. Ich schlich mich langsam von hinten an ihn heran, und als der Junge mich sah, gab ich ihm ein Zeichen, still zu sein. Ich nahm einen freien Stuhl und zog ihn zu ihrem Tisch, stellte die Tasche auf den Boden, und als ich Platz genommen hatte, sagte ich: »Guten Tag. Ich bin hier, um meinen Vater zu besuchen.«
    Jeder andere hätte gleich mit einem Vorwurf reagiert, hätte so etwas wie »Das wurde aber auch Zeit« gesagt, aber mein Vater gehörte in solchen Momenten zu jenen seltenen Menschen, die auch ohne Bildung feinfühlig waren, mit einem angeborenen Taktgefühl, das manch einem einfach nicht gegeben ist, aber er hatte dieses Einfühlungsvermögen und vermied es, anderen ein Schuldgefühl zu vermitteln. Vielmehr hatte er die Angewohnheit, Dinge, die man nicht ändern konnte, mit einer abwinkenden Hand loszulassen, und sagte oft, dass ein Leben ohne kleinkrämerisches Aufrechnen viel schöner sei. Zeiten, die ohne Begegnungen vorbeigegangen waren, ob mit Freunden oder seinen Nächsten, überbrückte er mit einer Anekdote oder einer Geschichte, gab den Betroffenen damit zu verstehen, dass die Zeitkluft sie nicht trennen konnte und dass man nur an der Stelle weitermachen musste, an der man sich voneinander verabschiedet hatte. Jetzt sah er mich mit seinen hinter den Brillengläsern größer wirkenden Augen an, die in diesem Moment merkwürdig überirdisch auf mich wirkten. Mit brüchiger Stimme sagte er: »Na, wie sehe ich aus?« Ein Stein fiel mir zusammen mit meinen vorherigen Zweifeln vom Herzen. Er erwartete keine Antwort von mir, sondern nahm das zum Anlass, mir zu erzählen, was von ihm noch übrig geblieben war, und sagte, »dieser Teil von mir ist besser als das, was du nicht mehr sehen kannst«. Dann fing er an, über sich selbst zu spotten. Der Humor war schon immer eine seiner stärksten Waffen gewesen, das, was die Menschen alle an ihm liebten. Er sagte, an ihm gehöre ihm überhaupt nichts mehr, seine Aufzählung begann mit den vom Sozialamt gespendeten Brillengläsern, mit denen man sich in der Sonne eine Zigarette anzünden könne, dann ging er zu den Zähnen und dem Hemd über. »Aber ich bin das gewöhnt, ich habe mein Leben lang fremde Sachen getragen, weil ich nie etwas Eigenes haben wollte, ausgenommen mich selbst, das Schlimmste also, was ein Mensch haben kann.«
    Er sah traurig aus, war gelb im Gesicht, nicht wie jemand, der Tuberkulose hat, sondern wie einer, der aus seinem Sarg gestiegen war, um sich nach dem Gespräch wieder ins Leichentuch wickeln zu lassen. Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der im Alter so erheblich viel kleiner geworden war als zuvor. Aber welches Bild von meinem Vater, das ich seit der Kindheit in mir getragen hatte, war überhaupt real? Aus dem winzigen, schmal gewordenen Kopf ragten hinter den Brillengläsern zwei unverhältnismäßig große Augen. »Was könnte ich jetzt nur mit diesen riesigen Kuhaugen sehen, was ich mit meinen eigenen vorher nicht gesehen habe?«, sagte er.
    Mein Vater glaubte nicht daran, dass er sich in diesem Sanatorium aufhielt, um wieder gesund zu werden, der Sinn, sagte er, liege darin, »sich ins Sterben ohne Selbstmitleid einzuüben«. Dann hörte er auf, darüber zu reden, legte seine Hand auf mein Knie, betrachtete mich und sagte: »Du weißt, dass das hier unser Abschied ist.«
    Dieser Einwurf war ein typisch für meinen Vater, er machte immer so etwas, damit unterbrach er das, was von allen mit Anteilnahme verfolgt wurde, er schien ein intuitives erzählerisches Gespür zu haben, wusste, dass es ohne Abschweifungen letztlich langweilig werden konnte, und manchmal kommt mir der Gedanke, dass ich genau das von
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