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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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klar, es schoss unter einer wild wachsenden Haselstaude hervor. Wir griffen mit vollen Händen nach dem Wasser und löschten unseren Durst, »tranken uns satt«, wie es mein Vater ausdrückte. Er liebte solche Wortspiele, mit denen er sich die Zeit am liebsten vertrieb. Die Suche nach mehreren Bedeutungen, die in einer Formulierung steckte, machte ihn zu einem akribischen Forscher, der uns jetzt aufforderte, »an der Quelle satt zu werden«. Als wir die Anhöhe bestiegen, variierte er seinen Satz, versuchte herauszufinden, wen oder was man noch an die Quelle führen und wer oder was einen dort satt machen könnte. Mir gab er den Rat, meine Augen als Quelle zu benutzen und mir etwas öfter schöne Frauen anzusehen. Es gefiel mir, was er sagte, und ich ging ganz auf ihn ein, zitierte sogar Ivo Andrić, der einmal geschrieben hatte, dass die höfischen Sängerinnen nach Como fuhren, um sich dort an den Farben satt zu sehen, die es sonst nirgendwo auf der Welt gab.
    Er war schon außer Atem, als wir nach einer Weile zu einem Stein kamen, an dem er sich anlehnte. Es war sein Lieblingsstein, ein Grenzstein, der wie ein Grabstein aussah, wie geschaffen für eine Rast. Er hatte viele Namen für diesen Stein, zu dem er jeden Tag ging, jedes Mal langsamer, weil es immer anstrengender für ihn wurde. »Jetzt atmen wir hier mal ein bisschen aus«, sagte er und setzte sich hin.
    Der Junge lächelte. Aber ich wollte Vaters Spiel nicht mitspielen, wollte nicht so tun, als hätte er nicht das Wort aus statt des Wortes durch gesagt. Ich kannte seine verbalen Manöver zu gut und stimmte ihm zu. »Gut, dann atmen wir mal aus.«
    Als wir saßen, knabberte ich an den schmalen Gräsern, irgendwo im Wald hallte das Geräusch einer einschlagenden Axt nach, jemand fällte in diesem Moment mit Sicherheit einen Baum. »Ich mache keine Witze, ich würde gerne genau hier meinen letzten Seufzer tun, ausatmen, an diesem Ort«, sagte er. »Der Tod ist keine Sense, wie man das so gemeinhin denkt, er zerschneidet nicht alles, was ihm vor die Klinge kommt, wie das etwa ein Bauer machen würde. Vielmehr schiebt er genau das auf, er schnuppert ein bisschen an dir und wartet dann auf dich, schenkt dir Zeit, damit du dich bereit machst, dir einen Ort suchst, an dem du dich ihm ergeben wirst. Zwischen dem Tod und dem Sterbenden ist alles besprochen, der Tag und die Stunde, der letzte Augenblick, die Sekunde, in der die Kerze zu Ende brennt. Ich kannte einen Kranken hier im Sanatorium, der drei Monate lang nach dem Tod gerufen hat, er beleidigte ihn, nannte ihn eine Nutte, komm endlich her, du blöde Nutte, sagte er. Der Arme hat gelitten und gelitten. Und irgendwann bin ich zu ihm gegangen und habe gesagt: ›So kommt er nicht zu dir, der Tod kommt nicht, nur weil du es ihm befiehlst, du musst einen Platz finden, miete dir einen schönen Raum und empfange ihn wie ein vornehmer Herr.‹ Er hat auf mich gehört, hat sich schön angezogen, hat seine Söhne und seine Familie eingeladen und ein Fest veranstaltet. Er ist singend gestorben.«
    Wir sprachen über alles, meine Bücher ließen wir aber aus, als hätten wir ein Abkommen getroffen, sie nie zu erwähnen. Es war wie ein Tabu, das sich von allein zwischen uns gestellt hatte. Über das Schreiben an sich sprachen wir aber durchaus und auch über die Schwierigkeiten, die sich dabei ergaben, aber meine eigenen Bücher, Texte, Kritiken wurden nie ein Thema und ich habe nie herausgefunden, warum das so war. Er gab mir sogar ein paar gute Ratschläge, wie ich Konflikte vermeiden konnte. Das Überraschende war, dass er die Literatur eben nicht als Konflikt, sondern einfach als Kunst sah. Wenn so etwas aus dem Mund eines einfachen und ungebildeten Menschen kommt, dann erscheint es mir immer viel präziser als das, was man von Gelehrten oder geschulten Ästheten zu hören bekommt.
    Das war mein für mich historisch gewordener Spaziergang mit meinem Vater. Auf dem Rückweg erzählte der Junge übermütig, dass sie die Spaziergänge am liebsten im Frühjahr machten, wenn noch kleine Schneehäubchen zu sehen waren, aus denen die Schneeglöckchen langsam in die Höhe schossen. Nach der Schmelze kamen dann schon bald die schönen Tage und die beiden gingen gemeinsam Veilchen sammeln, die sie in der Frauenabteilung in Gläser stellten. Sie waren in dieser Abteilung beliebt, davon konnte ich mich selbst während des Essens überzeugen. Viele Kranke kamen an unseren Tisch, begrüßten uns und freuten sich für mich und
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