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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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ich gleich darin blättern würde, was ich schließlich auch tat. Im nächsten Augenblick geschah etwas, das ich nur mit dem Wort schrecklich beschreiben kann. Beim Blättern fielen die Seiten einzeln aus dem Buch, an mir herab, auf den Boden. Die Arbeiter lachten und behielten mich immerfort schadenfroh im Auge. Ich war offenbar in eine Falle getappt. Das wurde immer deutlicher. Ich nahm das zweite Belegexemplar in die Hand, das dritte, das vierte und immer so der Reihe nach, aber jedes Buch fiel, auf die gleiche Weise wie das erste, auseinander. In den Händen blieb mir wie ein Skelett immer nur allein der Buchdeckel übrig. Einer der Setzer sagte zu mir: »Sie haben ein Buch geschrieben, das sich selbst auflöst.« Ich kniete mich auf den Boden, um ein paar Seiten aus meinen sich selbst zersetzenden Büchern aufzuheben. Die eine oder andere Zeile versuchte ich laut vorzulesen, nur für mich, aber nicht ein Wort wollte mir über die Lippen kommen. Meine Stimme verweigerte sich mir. Als ich dann auch noch bemerkte, dass mein Buch in einer mir unbekannten Sprache verfasst worden war und aus fremdartigen Buchstaben bestand, wich ich bestürzt zurück. Das einzig Gewisse war jetzt nur noch, dass sich auf jeder Seite mein Name zu wiederholen schien.
    Ich schreckte aus dem Traum auf, schweißnass, außer Atem. Noch unter dem Eindruck dieser nächtlichen Bilder stehend, ließ ich tags darauf den Druck meines Buches stoppen. Das war vielleicht überstürzt und auch naiv von mir, aber ich konnte nicht umhin, diesen erdrückenden Traum als ein richtungweisendes Zeichen zu deuten. Es kam mir vor wie eine Botschaft meines inneren Zensors, und danach war es mir einfach unmöglich, dieses Buch zu veröffentlichen. Ich war außerstande, Erschütterungen irgendeiner Art zu ertragen. Davon hatte mir schon mein letztes Buch genügend beschert; es war schließlich eingestampft und zu Altpapier verarbeitet worden. Als der verantwortliche Lektor von meinem Entschluss, das Buch zurückzuziehen, erfuhr, verlangte er eine Erklärung von mir. »Jeder Schriftsteller«, sagte ich zu ihm, »muss ein unvollendetes Manuskript haben, es fortwährend ergänzen und bearbeiten. Das Schreiben ist ein derber Akt, der einen bis auf die Knochen entblößt. Dieses Manuskript werde ich die nächsten paar Jahre nicht aus der Hand geben, schließlich bin ich noch an einem unzüchtigen Leben interessiert.«
    Dann vergingen zwei Jahrzehnte. Alle Lust war längst aus mir gewichen, ich wollte dieses Buch nicht mehr veröffentlichen. Allerdings erschienen Teile des Buches schlussendlich in einer etwas überarbeiteten, zugleich entschlackten Form, in einem gänzlich anderen Kontext. Und wenn sich jetzt noch irgendjemand für dieses Buch interessiert, es sich zu Gemüte führen möchte, weil er zum Beispiel ein aufgeweckter Leser ist, so könnte er bald auf den Gedanken kommen, ich hätte auf diesen Seiten meinem Vater viel zu viel Platz eingeräumt, einem Menschen also übermäßige Aufmerksamkeit geschenkt, der sich gar nicht als Figur für ein Buch eignet. Aber er stand mir nun einmal als geistiger Pate beim Schreiben zur Seite, hat mir bei diesem Buch geholfen, wie übrigens alle meine anderen Familienmitglieder und die vielen peripher Mitlaufenden auch, die ich nur kurz streifen konnte, um meinen eigenen inneren Ort sichtbar zu machen.
    Ich hatte dabei nicht vor, meinen Verwandten irgendwelche besonderen Gefühle entgegenzubringen. Ich habe es bloß nicht mehr ausgehalten, immer auf der einen schmalspurigen Strecke meines kleinen Familienzuges allein hin- und herzurattern, hatte es satt, ewig allein durch die Gegend zu fahren, um am Ende zu sehen, dass ich mich gar nicht von jener Stelle gerührt hatte, an der ich eingestiegen war. Niemand von uns lebt in einer für alle Zeiten gleichbleibenden Stadt; auch wenn wir uns immer wieder beweisen möchten, dass wir dort, wo wir sind, am richtigen Platz sind, unveränderlich ist dieser Platz nicht. »Wir sind nun einmal immer dort, wo wir nicht sind«, so hat es Jean-Pierre Jouve mit seiner treffenden Zeile auf den Punkt gebracht. Ich will es ohne Umschweife sagen, Kompromisse sind nichts für mich. Ich bin müde darüber geworden, immer wieder verschiedene Versionen ein und derselben Geschichte zu erzählen. Immer wieder kam es vor, dass ich nichts mehr mit den Büchern anfangen konnte, obwohl sie gerade erst in den Druck gegangen waren. Es würde mir jetzt genauso wie früher gehen, wenn ich nicht begriffen
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