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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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ein Ast einen Hieb oder er schnitt sich aus dem Nichts heraus mit dem Gartenmesser, und die Wunden wuchsen nur sehr langsam zu. Manchmal platzten sie dann viele Tage später einfach wieder auf, Blut und Eiter flossen heraus. Der schattige Teil des Hains zog uns alle magnetisch an. Versuchungen unterliegen präzisen Sogkräften. Und jeder von uns zeigte sich gerade dann besonders kampflustig, wenn unsichtbare Kräfte im Spiel waren. Man sagte, Großvater Mato habe jeden aus der Familie dazu angehalten, sich, sobald er den Fuß in den Hain setzte, den Teufeln direkt zu stellen.
    »Wenn du dich selbst kennenlernen willst«, sagte er, »musst du vor allem deine Kräfte mit jemandem messen, der ein widerwärtiger Gegner ist. Einen schlimmeren und widerwärtigeren als den Teufel gibt es nun einmal nicht.«
    Auf der schattigen Seite des Hains fand eine Art Familieninitiation statt. Voller Angst ging ich im Alter von acht Jahren barfuß über Stechdorn. Ich sollte abgehärtet werden, aber gelungen ist das nicht. Dieses Ritual machte vor allem eines aus mir – einen noch ängstlicheren Menschen als den, der ich ohnehin schon war. Heute noch meide ich Dunkelheit und Wälder. Selbst wenn ich jetzt darüber schreibe, jagt mir noch ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, vor allem dann, wenn ich mir ausmale, was mir damals im Alter von acht Jahren alles hätte zustoßen können. Ich will mich nicht im genauen Nacherzählen jener Vorkommnisse üben. Das liefe auf einen viel zu detaillierten Bericht oder auf ein ganzes Buch hinaus. Dieser Wald hat schon eine beachtlich lange Geschichte. Andere haben dieses mystische Stückchen Land bereits vor mir inspiziert, und es sind schon schlaue Texte über den Hain geschrieben worden. Ich meine mich jedenfalls daran zu erinnern, einen solchen Text in der Hand gehalten zu haben, den Titel habe ich mir nicht gemerkt. Der Name des Autors ist mir auch entfallen, aber ich weiß, dass ich beim Lesen auf interessante Details gestoßen bin, wie etwa die Beschreibung eines Rosmarinbusches. Es war weit und breit das einzige Exemplar in dieser Gegend. »Der Rosmarin blüht und besteht tapfer«, hieß es da, »unter grobem und wildem Gewächs, in einem Klima, das ihm nicht zusagt.« Ich habe diesen Rosmarinbusch nie zu Gesicht bekommen, zweifellos aber kann man dem Verfasser Glauben schenken. Das blutige Messer, von dem auch in diesem Text die Rede war, könnte der Autor vielleicht sogar bei meinem Großvater gekauft haben. Es soll in einen wilden Haselnussbaum gerammt worden sein und in aller Regelmäßigkeit vor sich hingeleuchtet haben. Diese Geschichte habe ich auch schon in meiner frühen Kindheit zu Ohren bekommen. Mein Vater hat sie mir erzählt, und er selbst hat sie wiederum von seinem Vater erzählt bekommen.
    Niemand aus meiner Familie hat das Glück gehabt, vom Hain verschont worden zu sein, niemand ist dort nur mit kleinen Kratzspuren davongekommen, ernsthafte Verletzungen waren eigentlich sogar die Regel. Eine Cousine, die vier Jahre älter war als ich, ist auf dem Weg zum Spital gestorben, weil sie auf dem schmalen ausgetretenen Pfad am Rande des Hains von einer Schlange gebissen worden war. Sie konnte keinen anderen Weg gehen. Man kam nur über diesen Pfad in den dichten Wald und gelangte auch nur auf ihm zur Mitte des Hains. Einen leichteren Zugang verunmöglichten die Schlangen. Das brachte die Vorstellung mit sich, irgendwo im Hain wäre ein Schatz vergraben. Die Leute hatten sich mit der Zeit mehr und mehr darauf geeinigt, dass er in der Nähe einer Tenne vergraben worden sein musste, die man errichtet hatte, um, wie es hieß, die Hexen in der Nacht tanzen zu lassen. Die Schlangen, davon war man überzeugt, waren die Hüterinnen dieses Schatzes. Das blieb selbstverständlich eine unerwiesene Legende, wahr ist aber doch, dass niemand je einen Vipernbiss auf diesem Pfad überlebt hat. Auch ich habe mich einmal früh am Abend mit zwei Cousins auf den Weg dorthin gemacht, der eine Junge war im gleichen Alter wie ich, der andere zwei Jahre älter. So wie es alle aus unseren Familien in ihrer Kindheit taten, wollten auch wir uns dieser geheimnisvollen Aura des Pfades stellen. Wir sehnten uns nach einer eigenen Geschichte, die wir dem Familienarchiv der durchfabulierten Erzählungen beisteuern wollten.
    Mit behutsamen Schritten gingen wir den Pfad entlang, wir waren so vorsichtig, als gingen wir barfuß über glühende Kohlen. Ich hatte mir dicke Kniestrümpfe und Gummistiefel
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