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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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Vater über eine solche Wendung zu reden, ich selbst wusste nicht wirklich viel darüber und er noch weniger als ich. Als ich ihm erzählte, dass die Grundlagen unserer Sprache im Vorslawischen wurzeln, folgerte er logisch, dass ein solches Vermächtnis ja dann zwangsläufig sei. Ich hatte mir nicht einmal vorstellen können, dass mein Vater ein Bewusstsein davon hatte, was Sprache ist, muss aber gestehen, dass ich geradezu paralysiert war, als er sagte: »Sprache verändert sich wie alles andere auch, sie wird zeitgleich reicher und ärmer. Die eine Sprache wird von allen anders benutzt. Das Wort lentrati se habe ich als Kind gehört, in der Regel benutzt man es, wenn sich eine Frau unsittsam hinsetzt, man dabei ihre Oberschenkel aufblitzen sieht. Dann sagt man zu ihr, wie sitzt du denn herum, du wirst uns alle noch töten wie ein Blitz!«
    Die Sirene erklang bereits das zweite Mal. Es schien, als hätte sich das erste Heulen den Gesetzen der Zeit widersetzt und sich jenseits der Vergänglichkeit bewegt, Schulterzucken war die Folge – »Soll die Sirene nur heulen!«, dachten wir. Als die Sirene jedoch das zweite Mal erklang, obzwar weniger kraftvoll, warf es die Reisenden aus ihrem Gleichmut, sie wurden unruhig, standen auf, fingen an, ihre Sachen einzusammeln und in den Körben zu verstauen, sie schüttelten Decken, Bademäntel und Kleider aus, die bis jetzt auf der Erde gelegen hatten. Die Zeit, die wir hatten, war schnell vorbeigegangen, ich war zufrieden und glücklich, dass ich nach einer so langen Zeit einen großen Teil des Tages mit meinem Vater im Sanatorium verbringen konnte. Alles erschien mir in einem neuen Licht, ich sah alles mit anderen Augen. Was er gesagt hatte, wirkte ungewöhnlich auf mich und ich hatte das Gefühl, er gehe mit allem spielerisch um und sei in der Lage, das Bittere, das Teil seines Lebens gewesen war, nicht nur humorvoll zu betrachten, sondern auch mit einem wehmütigen, in die Tiefe schauenden Auge und innerer Anteilnahme, die ein Bestandteil unseres Gesprächs wurden. Manchmal spürte ich den unendlich währenden Schmerz alter Wunden, die sich irgendwo in meinem Inneren abgelegt hatten. Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich meinen Vater in der besonderen Umgebung des Sanatoriums ganz neu erleben konnte, ob es seine Krankheit war, die die Intensität zwischen uns herstellte. Ich hatte erst am Ende seines Lebens unsere Verwandtschaft entdeckt, mein Vater war ein Fremder für mich, und jetzt war es tatsächlich zu spät, die Kerze anzumachen.
    Ich stand vom Tisch auf und ging zum Rand der Terrasse, lehnte mich an den Zaun und sah zum Fahrer, der schon den Motor angelassen hatte, aber noch einmal ausgestiegen war; er machte sich auf den Weg zu einer Bank. Dort steckte er sich eine Zigarette an. Vater trat zu mir, mit einer Hand hielt er sich am Zaun fest, er krallte sich förmlich an das Eisengitter, als stemme er sich gegen einen unsichtbaren Feind, der ihn von diesem Platz wegzerren wollte. In der anderen Hand hielt er die kleine Kiste. »Wir haben noch ein bisschen Zeit«, sagte er mit brüchiger, leiser Stimme, als würden wir jetzt in diesem kleinen Zeitkanal eine weitreichende Entscheidung treffen oder uns nun etwas gleichermaßen Kühnes wie Unerhörtes sagen, etwas, das wir bisher voreinander verborgen und immer ungesagt gelassen hatten.
    In diesem Augenblick nahm er mich in den Arm, fest zog er mich mit der einen Hand an sich, sah mich geradezu beschämt an und senkte den Kopf, er wollte mir so zeigen, dass er nicht in der Lage war, noch ein Wort zu sagen, selbst dann nicht, wenn wir uns wirklich noch etwas zu sagen gehabt hätten, es wäre ihm unmöglich gewesen, in dieser Sekunde zu sprechen. Die Zeit lief ab. Alles war schon immer vorbeigegangen und auch dieser Tag neigte sich seinem Ende zu; in der Ferne verschwand die Sonne endgültig hinter ein paar Bäumen, ihr Widerschein hielt nur kurz an, die letzten Strahlen flimmerten noch ein letztes Mal und bald schon würden sich auch die Schatten in der vorabendlichen Stille auflösen, leise würde die Nacht sich auftun und dieses Fleckchen Erde, auf dem mein Vater jetzt weilte, in eine Festung der Dunkelheit verwandeln. Die anderen Besucher bestiegen schon den Bus, und auch ich machte mich auf den Weg, lief schnell die schön angelegten kleinen Stufen hinunter, der Junge begleitete mich, und beim Abschied empfand ich eine tiefe Verbundenheit mit ihm, streichelte ihn mit meiner ganzen Zärtlichkeit und Dankbarkeit, aber
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