Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
Tageszeitung Politika in der Rubrik »Buchkritiken« unter dem Titel »Der erste Roman eines jungen Autors in der Progres -Ausgabe von Novi Sad« publiziert wurde. Aber für ihn hatten vor allem die Fotografien eine große Bedeutung, es waren viele neue und massenweise uralte darunter. Die Familienfotografien sah er sich häufig an, er konnte Stunden damit zubringen, sie zu betrachten und sich an Geschichten zu erinnern, die zu den vertrauten Gesichtern passten. Manchmal wusste er nicht mehr, um wen es sich bei den Porträtierten jeweils handelte, es waren auch Freunde darunter, die schon längst verstorben waren; und auf den Fotos von Begräbnissen, Hochzeiten und anderen Festen waren Menschen zu sehen, die ihm jetzt als vollkommen Unbekannte erschienen. Ich sah mir gerne fremde Familienalben an, nur meine eigenen Fotos deprimierten mich, ich vernichtete sie häufig, deshalb besitze ich heute nur eine Handvoll Fotografien.
    In Vaters kleiner Kiste fand ich doch noch ein paar Fotos, auf denen wir zusammen zu sehen waren. Er hatte auf jedem Bild meinen Kopf eingekreist, ich sah immer unruhig aus, frech oder ordinär, streckte die Zunge raus oder machte eine komische Geste. Mein erster Impuls war, die Fotos alle zu vernichten, aber dann besann ich mich, die Fotos waren Vaters Hinterlassenschaft und ich wollte sie deshalb nicht zerstören. Von meinen Schulexkursionen hatte ich nicht ein einziges Foto, weil ich immer in Deckung ging, sobald ein Fotoapparat ausgepackt wurde. Einmal habe ich mich sogar versteckt, ich beobachtete heimlich den Fotografen, der die Schüler wie Puppen hin und her schob. Ich war froh und stolz, ihm und seinen Anordnungen entkommen zu sein, mich würde er nicht derart unter seine Fittiche nehmen und sich meine Lebensmomente zu eigen machen, er würde nicht der Herr über meine Erinnerungen werden und ich nicht eine kleine Spielfigur unter der großen Regie eines für mich wildfremden Menschen. Viele Jahre später habe ich einem Freund, der heute ein angesehener Schriftsteller ist, meine Gründe für die Abneigung dargelegt, ihm anvertraut, warum ich es nicht mochte, wenn man mich fotografierte. Er hatte nichts Besseres zu tun, als mich mit seinem psychoanalytischen Blick zu malträtieren. Wir saßen auf der Terrasse des Hotels Slavija , hier trank er am Abend meistens etwas, er hörte mir ohne Zwischenfragen zu, sagte dann, es handele sich um eine typisch regressive Flucht in den Mutterleib, und schloss mit der Deutung, dass ich auf diese Weise unbewusst meine Vergangenheit auslöschen wolle. Die Psychoanalyse tötet aber alles, was ein bisschen nach Gesundheit aussieht, ging es mir damals durch den Kopf. Sollte ich je meine Memoiren schreiben, dann wird in ihnen dieser sehr geschätzte Psychoanalytiker mit Vor- und Nachnamen verewigt werden!
    Als ich dreizehn Jahre alt war, ging mein Vater mit mir in das Foto-Studio in Dubrovnik. Auf dem Weg zu diesem fein ausgestatteten Laden, in dem man die glücklichen Gesichter frisch Vermählter in einer Vitrine ausstellte, sagte mein Vater, es sei unsere Pflicht, dem natürlichen Familiengesetz zu folgen und das Oberhaupt mit seinem Nachfolger auf einem Foto festzuhalten. Als wir das Studio betraten, sagte der Fotograf: »Das ist also der Nachfolger.« Vater zog gleich seinen Mantel aus, und der Mann zog ihm ein Hemd mit wuchtigen Epauletten an, das er ihm bis zum Hals zuknöpfte. Dann platzierte er ihn auf einem prachtvollen Sessel, der eines Königs würdig gewesen wäre. Der Stoffüberzug war schon abgenutzt, mit einer Armlehne und einer geschnitzten Rückenstütze, die in die Form einer Krone mündete. Vater saß da wie ein falscher König, auf einem falschen Thron; die Krone über ihm war riesig, die Holzschnitzerei sah aus wie geklöppelte Spitzenarbeit. Vater stützte die Ellbogen auf der Lehne ab. Es belustigte mich, ihn so zu sehen, er wirkte auf mich wie ein Kammerdiener, machte also alles andere als den Eindruck eines Generals oder was auch immer der Fotograf aus ihm in dieser Uniform machen wollte. Mich steckte er in eine Matrosenhemd-Montur, die ich nie selbst angezogen oder mir annähernd zum Anziehen gewünscht hätte. Dann rieb er sich die Hände mit einem Duftöl ein und glättete meine Haare, kämmte mich und positionierte mich neben dem Sessel, um schließlich meine Hand auf Vaters Schulter zu legen. Die Epauletten musste man natürlich noch sehen. Er ging zum Fotoapparat, starrte auf uns und schrie dann: »Das ist es. Der Augenblick
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher