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Kaeltezone

Kaeltezone

Titel: Kaeltezone
Autoren: Arnaldur Indridason
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Eins
    Sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf die Knochen, die nicht dort hätten sein sollen. Genauso wenig wie sie selbst.
    Zunächst glaubte sie, dass es sich wieder um ein Schaf handelte, das im See ertrunken war, aber als sie näher kam, sah sie nicht nur den Schädel auf dem Boden des Sees, der halb eingegraben war, sondern auch die Umrisse eines menschlichen Skeletts. Einige Rippen ragten aus dem Sand heraus, und unterhalb davon zeichneten sich die Konturen des Beckens und der Schenkelknochen ab. Das Skelett lag auf der linken Seite, und sie sah die rechte Hälfte des Schädels, die leere Augenhöhle und drei Zähne im Oberkiefer, einer davon mit einer großen Amalgam-Füllung. Am Schläfenbein klaffte ein großes Loch. Ihr erster Gedanke war, ob es wohl von einem Hammer herrührte. Sie bückte sich und starrte auf den Schädel. Zögernd steckte sie einen Finger in das Loch. Es war voll Sand.
    Sie wusste nicht, wieso ihr ein Hammer einfiel, und die Vorstellung, dass jemand einen Hammer mit solcher Wucht an den Kopf bekommen hatte, war entsetzlich. Außerdem war das Loch viel zu groß für einen Hammer, es hatte ungefähr die Größe einer Streichholzschachtel. Sie beschloss, das Skelett nicht mehr anzurühren. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die dreistellige Nummer.
    Sie überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte. Das Ganze war irgendwie unwirklich – ein Skelett so weit draußen im See und halb im sandigen Boden vergraben. Und sie war alles andere als in Topform. Ihr fiel nichts anderes ein als Hämmer und Streichholzschachteln. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, und sie hatte enorme Probleme, sie zu bändigen.
    Es lag bestimmt daran, dass sie so verkatert war. Eigentlich hatte sie vorgehabt, heute zu Hause zu bleiben, dann aber hatte sie sich kurzfristig umentschieden und war zum See gefahren. Sie redete sich ein, dass sie den Wasserstandsanzeiger kontrollieren musste. Sie war Wissenschaftlerin. Das hatte sie immer werden wollen, und sie wusste, dass es bei solchen Messungen um Genauigkeit ging. Aber sie war einfach furchtbar verkatert und weit davon entfernt, logisch denken zu können. Am Abend vorher hatte die jährliche Betriebsfeier des Energieforschungsinstituts stattgefunden, und sie hatte zu tief ins Glas geschaut. Das kam hin und wieder vor.
    Sie dachte an den Mann, der zu Hause bei ihr im Bett lag, und wusste, dass sie sich seinetwegen hierher zum See geschleppt hatte. Sie wollte unter keinen Umständen mit ihm in ihrer Wohnung aufwachen und hoffte inständig, dass er sich verkrümelt haben würde, wenn sie zurückkam. Er hatte sie von der Feier nach Hause begleitet, war aber ein völlig uninteressanter Typ. Genau wie die anderen, die sie nach der Scheidung kennen gelernt hatte. Er sprach kaum über etwas anderes als seine Plattensammlung, und auch als sie schon längst aufgehört hatte, Interesse dafür vorzutäuschen, fuhr er unbeirrt fort. An diesem Punkt war sie auf dem Sessel im Wohnzimmer eingeschlafen. Als sie aufwachte, sah sie, dass er in ihr Bett gestiegen war und dort mit offenem Mund schnarchte, bekleidet mit einem knappen Slip und schwarzen Socken.
    »Notruf«, sagte eine Stimme am Telefon.
    »Ja, ich möchte melden, dass ich ein Skelett gefunden habe. Einen Schädel mit einem Loch drin.«
    Sie zog eine Grimasse. Dieser verfluchte Kater! Wer drückte sich so aus? Ein Schädel mit einem Loch drin. Ihr fielen nur die Witze über dänische Münzen mit Loch ein, war es das Zehn-Öre-Stück, oder waren es 25 Öre?
    »Wie ist dein Name?«, fragte die neutral klingende Stimme der Notrufzentrale.
    Es gelang ihr, ihre flatterigen Gedanken zur Ordnung zu rufen, und sie nannte ihren Namen.
    »Und wo ist das?«
    »Am Kleifarvatn. An der Nordseite.«
    »Hast du es mit dem Netz eingefangen?«
    »Nein, es liegt auf dem Seeboden.«
    »Bist du da getaucht?«
    »Nein. Es ragt aus dem Seeboden heraus. Die Rippen und der Schädel.«
    »Aus dem Seeboden heraus?«
    »Ja.«
    »Und wieso kannst du es sehen?«
    »Ich stehe direkt daneben, und es liegt vor mir.«
    »Hast du es ans Ufer gebracht?«
    »Nein, ich habe nichts angerührt«, log sie.
    Die Leitung blieb eine Weile stumm.
    »Was soll denn der Blödsinn?«, erklärte die Stimme auf einmal ärgerlich. »Soll das vielleicht ein Witz sein? Weißt du, was dich so ein blöder Scherz kosten kann?«
    »Kein Scherz. Ich stehe direkt daneben und sehe es.«
    »Also mit anderen Worten, du
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