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Kaeltezone

Kaeltezone

Titel: Kaeltezone
Autoren: Arnaldur Indridason
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sah, wie der Nordwind die Wasseroberfläche kräuselte, und überlegte im Stillen, dass hier alles wieder wie früher sein würde. Vielleicht hatte die Vorsehung eingegriffen. Vielleicht hatte sich der See nur geleert, damit ein altes Verbrechen aufgeklärt werden konnte. Bald würde er wieder unergründlich und kalt über der Stelle liegen, an der das Skelett geruht und eine Geschichte von Liebe und Verrat in einem fernen Land bewahrt hatte.
    Mehr als einmal hatte er Tómas’ Aufzeichnungen gelesen, die dieser niedergeschrieben hatte, bevor er sich das Leben nahm. Er las von Lothar und Emíl und den isländischen Studenten und dem System, das sich ihnen offenbarte, unmenschlich und unbegreiflich, zum Scheitern verurteilt. Er las Tómas’ Erinnerungen an Ilona und ihr kurzes Zusammensein, an seine Liebe zu ihr und zu dem Kind, das sie unter dem Herzen trug und das er nie kennen gelernt hatte. Er verspürte tiefes Mitleid mit diesem Mann, den er nie getroffen, sondern nur in seinem Blute vorgefunden hatte, mit einer alten Pistole neben sich. Vielleicht war es die einzige Lösung für Tómas gewesen.
    Es stellte sich heraus, dass niemand Emíl vermisste, außer der Frau, die ihn unter dem Namen Leopold kannte. Emíl war Einzelkind gewesen und hatte nur wenige Verwandte. Er hatte bis Mitte der siebziger Jahre eine sporadische Korrespondenz mit einem Onkel geführt, dem er aus Leipzig schrieb. Der Onkel hatte Emíls Existenz beinahe vergessen, als Erlendur ihn aufsuchte, um mehr über Emíl zu erfahren. Die amerikanische Botschaft hatte ein Foto von Lothar aufgetrieben aus der Zeit, als er Wirtschaftsreferent in Norwegen war. Emíls Verlobte konnte sich nicht erinnern, diesen Mann jemals gesehen zu haben. Auch die deutsche Botschaft hatte alte Fotos von ihm ausfindig gemacht. Es stellte sich heraus, dass er verdächtigt worden war, ein Doppelagent zu sein, und dass er wahrscheinlich irgendwann vor 1978 in einem Dresdener Gefängnis umgekommen war.
    »Er kommt wieder«, sagte eine Stimme hinter ihm, und er drehte sich um. Eine Frau, die ihm bekannt vorkam, lächelte ihn an. Sie trug einen dicken Anorak und eine Mütze.
    »Entschuldigung?«
    »Sunna«, sagte sie, »ich bin die Hydrologin, die damals die Knochen gefunden hat, du erinnerst dich vielleicht nicht mehr an mich.«
    »Doch, jetzt erinnere ich mich.«
    »Wo ist der andere, der mit dir zusammen war?«, fragte sie und blickte sich um.
    »Du meinst Sigurður Óli? Er ist bestimmt bei der Arbeit.« »Habt ihr herausgefunden, wer das war?«, fragte Sunna.
    »Sozusagen«, sagte Erlendur.
    »Ich habe aber nichts darüber gehört oder gelesen.«
    »Nein, das wird erst später bekannt gegeben«, sagte Erlendur. »Und wie geht es dir?«
    »Alles bestens.«
    »Gehört der da zu dir?«, fragte Erlendur, der in einiger Entfernung einen Mann am See stehen sah, der Steine über die Wasseroberfläche springen ließ.
    »Ja«, sagte Sunna, »ich habe ihn in diesem Sommer kennen gelernt. Und wer war das da im See?«
    »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Erlendur.
    »Ich lese sie vielleicht in der Zeitung.«
    »Vielleicht.«
    »Also dann, ciao!«
    »Mach’s gut«, sagte Erlendur lächelnd.
    Er sah hinter Sunna her, die zu dem Mann hinüberging, und er beobachtete, wie sie Händchen haltend zum Auto schlenderten und in Richtung Reykjavík losfuhren.
    Erlendur zog den Mantel enger um sich und blickte über den See. Er dachte an den Apostel, der Thomas hieß, von dem Johannes berichtet. Die anderen Apostel hatten ihm gesagt, dass sie den auferstandenen Jesus gesehen hätten, aber Thomas hatte erwidert: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben .
    Tómas hatte die Nägelmale gesehen, und er hatte seinen Finger in die Seite gelegt, aber anders als der Thomas, von dem in der Bibel berichtet wird, hatte sein Namensvetter den Glauben verloren, indem er fühlte.
    »Selig sind die, die nicht gesehen haben und dennoch glauben«, flüsterte Erlendur, und seine Worte wurden mit dem Nordwind auf den See hinausgetragen.
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