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Der Schwur der Venezianerin

Der Schwur der Venezianerin

Titel: Der Schwur der Venezianerin
Autoren: Gunter Tschauder
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Jugend in Venedig
    Das zehnjährige Mädchen stieg erwartungsvoll auf den Hocker und streckte seinen rechten Arm zur obersten vollgepfropften Regalreihe. Seit Langem hegte es den Wunsch, in dieses Buch zu schauen. Und nun barst es fast vor Neugierde. Es ergriff mit spitzen Fingern das alte Werk und versuchte es herauszuziehen. Bevor es gelang, brach noch ein Fingernagel ab und Bianca fluchte still. Doch dann legte sie behutsam das nach vergangenem Ruhm duftende Werk in die Beuge ihres linken Arms. Als sie wieder von dem Hocker herabgestiegen war, schwebte sie zum Fenster und setzte sich an den schweren Mahagonitisch. In die Bibliothek im Palazzo Cappello in Venedig fiel genügend Licht auf die vergilbten Seiten, sodass die Berichte ohne Mühe zu lesen waren.
    Aufgeregt erkannte Bianca an dem Umschlag, dass ihr das Tagebuch des Kreuzritters „Rogers, Baron von Lunel“ in die Hände gefallen war. Ein Bericht aus dem Jahre 1099 von einem Mann, der an dem ersten Kreuzzug teilgenommen hatte. Das mit Feder und Tinte geschriebene Buch musste schon über fünfhundert Jahre alt sein. Und nichts war spannender als zu erfahren, wie das alles hier, um sie herum, zustande gekommen war.
    Voller innerer Spannung schob die junge Venezianerin den rechten Zeigefinger zwischen die Blätter und schlug willkürlich eine Buchseite auf.
    Ihre Wangen glühten und ihr Herz raste, als sie las:
     
    “… Es war eine wilde Schlacht, Mann gegen Mann. Gesichter und Pferdeköpfe schienen über einem Blutnebel zu schwimmen. Zeitweilig hörte ich nichts, dann wieder durchdrang ein Schrei die Stille. Ich sah zerhackte Gesichter, gewahrte einen Mann, dem ein Axthieb das Metall des Helms in den Schädel getrieben hatte. Um uns wieherten und stürzten Pferde, Krieger fielen zu Boden, wurden durchbohrt, aufgeschlitzt oder niedergetrampelt. Ich war mit Schweiß bedeckt und wie benommen, kannte kein anderes Ziel als den jeweils nächsten Mann, der mir vor die Augen kam. Mein Blut war so erhitzt, dass ich es in den Ohren sausen hörte. Mechanisch führte ich mein Schwert, verspürte weder Ermüdung noch empfand ich zu meiner Verblüffung Furcht …“
     
    Bianca unterbrach mit klopfendem Herzen ihre Lektüre und rückte ihren Stuhl zurecht. Sie wollte es möglichst bequem haben, wenn sie, wie üblich, das ganze Buch in einem Rutsch durchlesen würde.
    In dem Moment klopfte es an die Tür. Das Mädchen wurde ärgerlich und rief wütend:
    „Ja, was ist?“
    Die Damigella, die Begleiterin ihrer Mutter, trat ein.
    „Eure Mutter wünscht, mit Euch spazieren zu gehen.“
    Bianca schaute die junge Frau erstaunt an. „Mutter ist schwer krank“, dachte sie, antwortete aber:
    „Sagt Mutter, ich käme sofort“.
    Sie räumte das eben erst begonnene Buch ärgerlich fort und war doch froh, mit ihrer todkranken Mutter einen Spaziergang machen zu können. War es der letzte Ausgang?
     
    An diesem Spätsommertag des Jahres 1558 gingen sie langsam am Kanal entlang. Bianca spürte voller Trauer, dass es mit Ihrer Mutter zu Ende ging. Zu lange war Pellegrina schon schwer krank gewesen und würde sich kaum noch erholen können. Umso erstaunlicher fand sie es, dass Mama noch einen Spaziergang mit ihr machen wollte. Was hatte sie vor? Warum war es so wichtig, jetzt noch mit ihr durch die Stadt zu laufen? Doch schon bald erkannte sie den Wunsch der Mutter, Ihr die letzten Ratschläge zu geben. Bianca war stolz darauf, ihr soviel wert zu sein.
    Die Mutter sprach stockend:
    „Mein Kind, nutze die Sehnsüchte der Männer nach einer schönen Frau. Nutze das Geschenk der Schönheit, das dir die Natur in reichlichem Maße zuteilwerden lässt.“
    Ein Hustenanfall zwang Pellegrina di Philipo Morosoni, die Mutter Biancas, zur Unterbrechung ihrer Worte.
    Gerade sechsundzwanzig Jahre, und schon sollte das Leben beendet sein? Sie spürte den nahenden Tod.
    Die Mutter legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Tochter Bianca und fuhr nach dieser Unterbrechung fort:
    „Wenn ich eines Tages nicht mehr bin, wird deine Schönheit die Männer berauschen und selbst dir Nahestehende werden dir mit Hass und Eifersucht begegnen. Du wirst Fürsten bezaubern und bei Königen den Dolch in der Scheide lockern.“
    Pellegrina urteilte wie das Orakel von Delphi. Ihre Worte versetzten Bianca in Aufruhr.
    Entlang des Rio del Ponte delle Beccarie wanderten sie mit zwei Damigelle, den beiden Begleitdamen, über die gepflegten Bürgersteige. Zu ihrer Rechten stachen die Gondoliere ihre Ruder in das
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