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Kaeltezone

Kaeltezone

Titel: Kaeltezone
Autoren: Arnaldur Indridason
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blickte ihn an. Sie hatte versucht, unauffällig auf seine Hände zu schielen, um zu sehen, ob er einen Ehering trug. »Ich habe das Loch im Kopf gesehen«, sagte sie. »Wisst ihr schon, wer es ist?«
    »Nein«, entgegnete Erlendur. »Er muss wohl ein Boot gehabt haben, nicht wahr? Um so weit hinaus aufs Wasser zu gelangen …«
    »Wenn du damit fragen willst, ob jemand zu Fuß dorthin gegangen sein könnte, wo das Skelett liegt, dann ist die Antwort nein. An dieser Stelle war der See bis vor nicht allzu langer Zeit mindestens vier Meter tief. Wenn das vor vielen Jahren passiert ist, was ich natürlich nicht weiß, könnte der See dort sogar noch tiefer gewesen sein.«
    »Also muss jemand mit einem Boot unterwegs gewesen sein«, sagte Sigurður Óli. »Gibt es Boote da am Kleifarvatn?«
    »Es gibt dort in der Nähe ein paar Sommerhäuser«, sagte sie und schaute ihm in die Augen. Er hatte schöne, dunkelblaue Augen unter schmalen Brauen. »Vielleicht gibt es da Boote. Ich habe allerdings nie eins auf dem See gesehen.« Mit ihm müsste man rudern gehen, dachte sie bei sich.
    Erlendurs Handy klingelte. Es war Elínborg.
    »Du solltest noch mal herkommen«, sagte sie.
    »Was ist denn?«, fragte Erlendur.
    »Komm selbst und sieh es dir an. Das ist äußerst merkwürdig. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Drei
    Er stand auf, schaltete die Fernsehnachrichten aus und seufzte tief. Es hatte eine ausführliche Berichterstattung über den Knochenfund im Kleifarvatn gegeben, und ein Interview mit dem zuständigen Beamten, der erklärte, dass der Fall eingehend untersucht würde.
    Er ging zum Fenster und schaute Richtung Meer. Auf dem Bürgersteig bemerkte er das Ehepaar, das jeden Abend an seinem Haus vorbeispazierte, der Ehemann wie immer einen Meter voraus, während die Frau versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Sie unterhielten sich während des Spaziergangs, er sprach nach hinten und sie mit seinem Rücken. Seit vielen Jahren schon kamen sie an seinem Haus vorbei und hatten längst aufgehört, ihrer Umgebung irgendwelche Beachtung zu schenken. Früher allerdings hatten sie manchmal zu seinem Haus hochgeblickt und zu den anderen Häusern in der Straße am Meer, und in die Gärten. Manchmal waren sie sogar stehen geblieben, um sich neue Spielgeräte vor den Häusern anzuschauen oder neue Zäune und Sonnenterrassen. Bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit unternahmen sie nachmittags oder abends diesen Spaziergang, immer zu zweit.
    Seine Blicke schweiften über das Meer, und am Horizont sah er ein großes Frachtschiff. Die Sonne stand immer noch hoch am Himmel, obwohl es schon Abend war. Die hellste Zeit des Jahres stand bevor, aber danach würden die Tage wieder kürzer werden, bis schließlich kaum noch etwas von ihnen übrig blieb. Das Frühjahr war schön gewesen. Mitte April waren die ersten Goldregenpfeifer auf der Wiese vor seinem Haus herumspaziert. Sie waren mit den Frühlingswinden aus Europa gekommen.
    Als er zum ersten Mal mit dem Schiff ins Ausland reiste, war der Sommer gerade zu Ende gewesen. Damals waren die Frachtschiffe nicht so groß, und es gab keine Container. Er erinnerte sich an die Seeleute, die im Laderaum mit Säcken hantierten, die einen halben Zentner wogen. Erinnerte sich an ihre derben Sprüche und ihr Seemannsgarn. Sie kannten ihn, weil er im Sommer am Hafen gearbeitet hatte, und sie machten sich einen Spaß daraus, zu erzählen, wie sie die Zollbeamten austricksten. Einige von diesen Geschichten waren so abenteuerlich, dass er genau wusste, dass sie erfunden waren. Andere waren spannend und dramatisch, auch ohne dass etwas hinzugedichtet werden musste. Und einige Geschichten bekam er nie zu hören, obwohl sie sagten, dass er bestimmt nichts weitererzählen würde, er, der Kommunist mit Abitur!
    Nichts weitererzählen.
    Sein Blick fiel wieder auf den Fernseher. Es kam ihm so vor, als habe er sein ganzes Leben lang auf diese Nachricht gewartet.

    Solange er zurückdenken konnte, war er Sozialist gewesen, wie alle anderen Familienmitglieder mütterlicher-und väterlicherseits. Unpolitisch zu sein wäre undenkbar gewesen, und er wuchs mit dem Hass auf alle Reaktionäre auf. Sein Vater hatte sich schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Arbeiterkampf engagiert. Bei ihm zu Hause wurde viel über Politik diskutiert, meist ging es um das amerikanische Militär in Keflavík, das von der kleinen Schicht der Begüterten gehätschelt und getätschelt wurde. Es waren die isländischen
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