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Kaeltezone

Kaeltezone

Titel: Kaeltezone
Autoren: Arnaldur Indridason
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Kapitalisten, die am meisten von der Anwesenheit der Soldaten profitierten.
    Und dann seine Freunde, die alle einen ähnlichen Hintergrund hatten. Ihre Ansichten waren radikal, und einige von ihnen waren rhetorisch äußerst begabt. Er erinnerte sich gut an die politischen Zusammenkünfte. An ihre Hitzigkeit und Leidenschaft, wenn sie das Wort ergriffen. Er besuchte diese Veranstaltungen zusammen mit seinen Schulkameraden, die genau wie er in der Jugendorganisation der Partei aktiv waren. Sie lauschten ihrem Vorsitzenden, der mitreißende, markige Reden gegen die Kapitalisten vom Stapel ließ, die das Proletariat ausbeuteten − und gegen das amerikanische Militär, das diese Bonzen in der Tasche hatte. Wie oft hatte er sich das angehört, und immer aus der gleichen tiefen und glühenden Überzeugung heraus. Er ließ sich von alldem, was er hörte, begeistern und mitreißen, denn er war als patriotischer Isländer und aufrechter Sozialist erzogen worden, der genau wusste, was er zu glauben hatte. Er wusste, dass die Wahrheit auf seiner Seite war.
    Bei diesen Zusammenkünften diskutierten sie häufig über die amerikanischen Streitkräfte in Keflavík und die abgefeimten Winkelzüge der isländischen Kapitalisten, die um jeden Preis den Amerikanern die Genehmigung zuschanzen wollten, auf isländischem Boden einen militärischen Stützpunkt einzurichten.
    Er wusste genau, wie das Land an die Amerikaner verschachert worden war, damit die isländischen Kapitalisten so fett werden konnten wie die Maden im Speck. Er hatte als Jugendlicher am Austurvöllur miterlebt, wie die Söldner des Kapitalismus mit Tränengas und Keulen aus dem Allthinghaus herausstürzten und auf die Demonstranten einknüppelten. Diese Landesverräter sind Lakaien des amerikanischen Imperialismus! Wir stehen unter der Knute amerikanischer Plutokraten!
    Dem Nachwuchs mangelte es nicht an schlagkräftigen Parolen.
    Er gehörte selber dem unterdrückten Volk an. Er ließ sich von der Begeisterung, von den zündenden Reden und der gerechten Idee, dass alle gleich seien, mitreißen. Der Direktor sollte mit seinen Arbeitern in der Fabrik stehen. Weg mit der Klassengesellschaft! Er glaubte aufrichtig und unerschütterlich an den Sozialismus. Er spürte ein inneres Bedürfnis, für die Sache einzutreten, um andere zu überzeugen und für diejenigen zu kämpfen, die schlechter gestellt waren, die Arbeiter und die Unterdrückten.
    Völker, hört die Signale.
    Er beteiligte sich mit viel Engagement an den Diskussionen bei diesen Zusammenkünften und beschaffte sich einschlägige Lektüre bei der Jugendorganisation oder suchte in Bibliotheken und Buchläden danach. Es gab genug davon. Er steckte voller Tatendrang und war in seinem Herzen zutiefst davon überzeugt, dass die Wahrheit seine Waffe war. Vieles von dem, worüber in der Jugendorganisation diskutiert wurde, erfüllte ihn mit dem Gefühl der gerechten Sache.
    Nach und nach erlernte er die Antworten auf die Fragen nach dem dialektischen Materialismus, dem Klassenkampf und den bewegenden Kräften der Geschichte, nach Kapital und Proletariat. Je mehr er las und sich für das, was er las, begeisterte, desto versierter wurde er darin, seine eigenen Beiträge auszuschmücken, indem er die geistige Elite der Revolution zitierte. Nach einiger Zeit war er seinen Altersgenossen nicht nur in Bezug auf die Texte der marxistischen Theorie, sondern auch rhetorisch so weit voraus, dass der Vorstand der Jugendorganisation auf ihn aufmerksam wurde. Wenn es um die Wahlen in den Vorstand und die einzelnen Kommissionen ging oder wenn Resolutionen verfasst werden mussten, wurde viel Pulver verschossen. Er wurde gefragt, ob er bereit sei, sich im Vorstand zu engagieren. Er war damals in der Unterprima, wo sie einen Debattierclub gegründet hatten, der »Rote Fahne« hieß. Sein Vater hatte entschieden, dass er als Einziger der vier Geschwister eine höhere Schulbildung erhalten sollte. Dafür war er ihm sein ganzes Leben dankbar gewesen.
    Trotz allem.
    Die Jugendorganisation war sehr aktiv, sie gab ein Mitteilungsblatt heraus, und es fanden viele Veranstaltungen statt. Der Vorsitzende wurde sogar nach Moskau eingeladen. Als er von dort zurückkam, konnte er aus eigener Anschauung über den Proletarierstaat berichten. Der Aufbau war grandios. Die Leute waren so zufrieden. Alle hatten genug von allem. Kolchosen und Planwirtschaft ließen einen Fortschritt erkennen, der alles andere in den Schatten stellte. Der Aufbau der
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