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Kaeltezone

Kaeltezone

Titel: Kaeltezone
Autoren: Arnaldur Indridason
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Industrie nach dem Krieg übertraf die kühnsten Erwartungen. Fabriken schossen aus dem Boden, die im Besitz des Staates, der Arbeiter selber waren und von ihnen geführt wurden. Neue Wohnsiedlungen entstanden in den Außenvierteln der Stadt. Und die ärztliche Versorgung war kostenlos. Alles, was sie gelesen, alles, was sie gehört hatten, war also wahr. Was für Zeiten!
    Zwar waren auch andere Genossen nach Russland gereist und hatten von ganz anderen und schlimmen Erfahrungen berichtet, aber davon ließ sich der Nachwuchs der Partei nicht beeinflussen. Solche Leute waren Handlanger des Kapitals. Sie begingen Verrat an der Sache, am Kampf um eine gerechtere Gesellschaft.
    Die Veranstaltungen des Debattierclubs »Rote Fahne« waren gut besucht und bewirkten, dass sich weitere Leute der Bewegung anschlossen. Er wurde einstimmig zum Vorsitzenden gewählt, was die Aufmerksamkeit von einflussreichen Mitgliedern der Sozialistischen Partei weckte. In seinem letzten Jahr am Gymnasium, das er mit Bravour absolvierte, stand fest, dass er das Zeug dazu hatte, einer der führenden Köpfe in der Partei zu werden.

    Er wandte sich vom Fenster ab und ging zum Klavier, über dem sein Abiturfoto hing. Die Jungen in schwarzen Anzügen, die Mädchen in schwarzen Kleidern. Er betrachtete die Gesichter unter den weißen Mützen. Das Schulgebäude glänzte in der Sonne, und die weißen Mützen leuchteten. Er hatte den zweitbesten Notendurchschnitt beim Abitur gehabt, und es hatte nicht viel zum ersten Platz gefehlt. Er strich über das Bild und dachte wehmütig an die Jahre im Gymnasium zurück. An die Zeit, als seine Überzeugung so felsenfest war, dass nichts sie erschüttern konnte.

    In seinem letzten Jahr auf dem Gymnasium wurde ihm die Mitarbeit beim Parteiorgan angeboten. In den Sommerferien hatte er im Hafen beim Löschen der Schiffe mitgeholfen, Arbeiter und Seeleute kennen gelernt und mit ihnen diskutiert. Viele von ihnen vertraten reaktionäre Ansichten und nannten ihn einen Kommunisten. Schon bevor er seine Arbeit bei der Zeitung aufnahm, hatte er sich bereits für den Journalismus interessiert und wusste, dass das Parteiorgan eine wichtige Grundlage für die Parteiarbeit als solche bedeutete. Zusammen mit dem Vorsitzenden der Jugendorganisation trafen sie sich im Haus des stellvertretenden Parteivorsitzenden. Der schmächtige Vize saß in einem tiefen Sessel, putzte sich die Brille mit einem Taschentuch und dozierte mit leiser Stimme über einen sozialistischen Staat auf Island. Alles, was er da in dem kleinen Wohnzimmer zu hören bekam, war so wahr und so richtig, dass er jedes Wort in sich aufsaugte und ihn bis ins Mark erschaudern ließ.
    Er war ein begabter Schüler. Was auch immer er sich vornahm, Geschichte, Mathematik, er brauchte sich nie anzustrengen. Was er einmal im Kopf hatte, blieb darin und war jederzeit verfügbar. Gedächtnis und Lernfähigkeit kamen ihm bei seiner journalistischen Arbeit zustatten, und er gewöhnte sich rasch an seine neue Tätigkeit. Er arbeitete zügig, hatte eine schnelle Auffassungsgabe und konnte lange Interviews führen, bei denen er sich abgesehen von ein paar Sätzen nichts zu notieren brauchte. Ihm war klar, dass er in seiner journalistischen Arbeit nicht objektiv war, aber wer war das schon.
    Er hatte vor, sich im Herbst an der Universität einzuschreiben, war aber gebeten worden, weiterhin für die Zeitung tätig zu sein. Das brauchte er sich nicht zweimal zu überlegen. Mitten im Winter bestellte der stellvertretende Vorsitzende ihn zu sich nach Hause. Die Sozialistische Einheitspartei der Deutschen Demokratischen Republik bot einigen isländischen Studenten Stipendien zum Studium an der Universität Leipzig an. Falls er das Stipendium annähme, müsste er selbst für die Reisekosten aufkommen, aber Unterkunft und Lebenshaltungskosten würden vom Gastland getragen.
    Er war gespannt darauf, nach Osteuropa oder in die Sowjetunion gehen, um mit eigenen Augen den Aufbau nach dem Krieg zu sehen. Er wollte reisen und andere Länder kennen lernen − und Sprachen lernen. Er wollte den real existierenden Sozialismus erleben. Vor dem Abitur hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich um einen Studienplatz an der Universität Moskau zu bewerben, aber er hatte immer noch nichts in die Wege geleitet, als er zu diesem Treffen bestellt wurde. Der stellvertretende Parteivorsitzende putzte sich wieder die Brille mit dem Taschentuch und wies ihn darauf hin, dass ein Studienplatz in Leipzig eine
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