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Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium
Autoren: Tom Egeland
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JUVDAL
23. – 28. MAI 2009

    Auf der Flucht zu sein, ist nicht nur Handlung, sondern auch ein Gemütszustand.
    Am Fenster summt eine Fliege. Hin und her, her und hin. Vielleicht ahnt sie die Freiheit hinter der Scheibe, die sie zurückhält. Durch das unebene Glas des Küchenfensters sehe ich die weit hinten liegenden Berge, die Hügel und den endlosen Wald, das Mosaik aus Abstürzen und Felswänden leicht verzerrt. Unten im Dorf erkenne ich einzelne Hausdächer, das Sägewerk, die Silberschmieden. Die verstreut an den Talhängen liegenden Höfe. Die Stabkirchen. Den silbernen Gischtschleier des Wasserfalls.
    Was habe ich getan?
    Das Summen der Fliege tötet mir den letzten Nerv. Hin und her, her und hin. Gefangen. Panisch. Wie gut ich es ihr nachfühlen kann. Jeder Flügelschlag ist voller Verzweiflung. Ich öffne das Fenster und lasse sie nach draußen. Im gleichen Moment ist sie verschwunden. Eine Fliege – es sagt viel, dass ich mich in ihr wiedererkenne, aber ich habe mich schon immer gern mit allen möglichen Kreaturen identifiziert.
    Auf der Flucht zu sein, bedeutet zu verschwinden, sich unsichtbar zu machen. In einer Menschenmenge. Im Chaos der Großstadt. Zu fliehen heißt, sein gewohntes Leben zu verlassen.
    Ich selbst bin in die Einsamkeit entschwunden.
    Der alte Schleifstein vor dem Stubenfenster ist umgestürzt. Unkraut überwuchert ihn. Unter dem Küchenfenster auf der Vorderseite des Hauses steht eine alte, morsche Bank. Ich sitze gerne dort im Geruch des sonnenverbrannten Teers, in dem lauen Wind, der von den Bergen herunterweht. Die Sonne ist für meine empfindliche Haut gerade mild genug. Einen Steinwurf entfernt plätschert ein Bergbach, aus dem ich jeden Morgen frisches Quellwasser schöpfe. Juvdal ist ein friedliches Fleckchen Erde, ein verstecktes Tal irgendwo zwischen der Telemark und Aust-Agder. Die Alm liegt weitab von den Menschen, umgeben von Birkenwäldchen, heidebewachsenen Anhöhen, dichten Wäldern und schneebedeckten Berggipfeln. Hier, im Schutz vor meinen Verfolgern, versuche ich das Mysterium zu ergründen.
    Es ist ein perfektes Versteck. Ein idealer Ort, um zu verschwinden.
    Doch vor wem fliehe ich eigentlich?
    Ich war zwölf Jahre alt, als Papa starb. Er stürzte an einer Felswand ab und zerschmetterte am Boden. Ich war nicht weit entfernt, als es geschah, ich habe seinen Schrei gehört.
    Schon damals habe ich mich gefragt, ob es das Böse in der Welt wirklich gibt – die destruktive Kraft voller Dunkelheit und Verderben, die einen durchs Leben begleitet und um den Platz an der Sonne bringt, sobald sich ihr eine Gelegenheit dazu bietet. Vielleicht verwechsele ich das Böse aber auch einfach nur mit der Launenhaftigkeit des Schicksals.
    Ich wuchs als verwöhnter Prinz in einem weißen Märchenschloss in einem noblen Vorort auf, in dem die Menschen gut gekleidet ihr Entrecote grillten und den Garten, ihre Autos und Ziersträucher wässerten, wenn die Hitze zu quälend wurde. Mama trank. Die Nachbarn übersahen ihre übelsten Exzesse voll verständnisvoller Diskretion, tätschelten meinen Kopf und nannten mich einen guten Jungen. Ich glaube, Papa hat ihren langsamen Verfall gar nicht richtig mitbekommen. Nach seinem Tod, als Mama seinen besten Freund heiratete, vergaß man mich draußen auf der Treppe. Ich bekam einen kleinen Bruder, den ich nie richtig kennengelernt habe, und einen Stiefvater, mit dem ich nie warm geworden bin. Heute ist er mein Chef im Institut.
    Erst als Erwachsener habe ich erfahren, dass Papas Unfall gar kein Unfall war. Er wurde Opfer seines eigenen Plans, seinen Kletterpartner umzubringen. Weil dieser etwas mit Mama hatte, heißt es. Als Papa zu Tode stürzte – dank seiner Eifersucht und manipulierter Seile und Karabiner –, hinterließ er einen zerschmetterten Körper, eine alkoholkranke Frau und einen vernachlässigten Jungen, der den Klang seines Schreis nie vergessen würde. Fast dreißig Jahre sind seither vergangen. Wo ist nur die Zeit geblieben?
    Mama nannte mich Lillebjørn. Sie ist inzwischen tot. Der Kosename war für sie ein Ausdruck ihrer mütterlichen Hingabe. Solange diese denn währte. Die Jungs in der Schule nannten mich Eisbär. Weil ich ein Albino bin.
    Die Zeit vergeht langsam in Juvdal. Stunde um Stunde, Tag um Tag sitze ich mit dem Laptop am Küchentisch und durchforste das Internet auf der Suche nach Informationen, die mir helfen könnten, die Zusammenhänge zu verstehen. Ich notiere mir die Namen von Fachleuten, die Titel von
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