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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns
Autoren: Peter S. Beagle
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bestimmt.«
    »Oh, das weiß ich«, antwortete das Einhornfohlen unbeschwert. »Ich wäre bestimmt nicht gekommen, wenn ich glauben würde, daß du uns tatsächlich verläßt.« Sein Horn färbte sich rot und grün und violett im Schimmer der Grenze.
    Der Himmel war inzwischen von Licht gerötet, die Dunkelheit färbte sich mancherorts silbern ein und verriet die ungeduldige Dämmerung darunter. Joey schien es, als sähe sie Dutzende von halbverborgenen Einhörnern, die sie aus den Bäumen jenseits des Dreimondteiches beobachteten – sie sehen mich–, wohin auch immer sie den Kopf wenden mochte. Der Schatten von Prinzessin Lisha neigte grüßend sein Horn, und ihr riesiger roter Begleiter tat es ihr gleich, die Stimme der Lady Fireez schwebte sanft durch ihre Gedanken und murmelte: »Ich werde für deine Großmutter sorgen, wie du für meinen Sohn gesorgt hast. Paß auf, wohin du gehst, sterbliches Kind.«
    Den schwarzen Lord Sinti konnte sie nirgends sehen, doch spürte sie seine Stimme deutlicher als alle anderen. »Sag Indigo, daß wir verstehen, was er getan hat. Zwar mag seine große Sehnsucht, ganz in eure Welt zu gehören, uns die Erblindung gebracht haben, doch wurden wir durch sein Opfer wieder befreit, wie vielleicht auch er selbst. Wir werden es nicht vergessen. Sag ihm das, Josephine Angelina Rivera.«
    Als sie an die Grenze kamen, mußte Touriq fast schon schwimmen, und Joey auf seinem Rücken war durchweicht bis über die Hüften und zitterte in der kalten Morgendämmerung. Die Grenze ragte über ihnen auf, weit mächtiger und wilder als das weich schimmernde Leuchten, das Joey fast schon als gegeben angesehen hatte. Sie gab ein lautes, hohles Geräusch von sich, wie heißes Fett in einer Pfanne.
    »Tja«, sagte Joey. Sie streichelte Touriqs Hals, machte sich grimmig bereit, ins Wasser zu gleiten und die letzten paar Meter zu strampeln. Doch das Einhornfohlen drehte heftig den Kopf, hielt sie mit seinem Horn auf. Gleichzeitig sprach Sinti zum letzten Mal zu ihr. »Versuch nicht zu schwimmen… deine Kleider würden dich in die Tiefe ziehen. Stell dich auf Touriqs Rücken und spring durch die Grenze. Tu, was ich dir sage.«
    Joey zögerte, dann trat sie ihre Schuhe von den Füßen und richtete sich ganz vorsichtig auf, breitete die Arme aus, um das Gleichgewicht zu finden. Plötzlich sagte Touriq: »Vielleicht komme ich zu dir in deine Welt, wenn ich groß bin. Es könnte sein, daß du eines Tages aufblickst, und da stehe ich dann.«
    »Nein!« sagte Joey. Die Heftigkeit ihrer Antwort ließ sie fast von seinem Rücken fallen. »Nein, Touriq, tu das niemals! Du bleibst, wo du bist, versprich mir das! Versprich es mir hier und jetzt.«
    Touriq murmelte etwas, das vielleicht oder vielleicht auch nicht eine Zustimmung sein mochte. »Dann geh jetzt. Stütz dich mit den Füßen ab und spring so weit du kannst. Ich werde dir helfen.« Langsam senkte er den Kopf. »Wir müssen gemeinsam zählen … eins, zwei.. .«
    Bei drei richtete sich sein Rücken unter Joeys Füßen wie eine Woge auf, und sie ging leicht in die Hocke, um zu springen, direkt in den lodernden, zischenden Mahlstrom von Farben … und im Sprung fühlte sie, wie die Verschiebung begann. Augenblicklich wurde die Grenze zu Rauch, Grau wirbelte in langsameres Grau hinein, und Joey taumelte hindurch, flog hierhin und dorthin, ziellos wie ein Kinderspielzeug in der Badewanne, verlor alles Zeitgefühl, auch das Gefühl dafür, ob sie durch den endlosen Rauch fiel oder aufstieg. Sie streckte die Hände aus, fand ihre Beine und zog sie an sich, legte ihre Arme fest um sie, machte sich zu einem kleinen Ball, brachte nur einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zustande: Was passiert, wenn ich wieder auf der Autobahn lande? Sie schloß die Augen, erinnerte sich verzweifelt an Kos geliebten Gestank…
    … und prallte auf und rollte zwischen die rostigen Zapfsäulen einer verlassenen Tankstelle. Das gesamte Viertel war über mehrere Blocks hinweg umzäunt, es wartete darauf, dem Erdboden gleichgemacht und neu bebaut zu werden. Joey sah überall schwere Maschinen stehen, doch nirgendwo Leute. Die Nachmittagssonne stand tief, und es lag ein ferner, kalter Wohlgeruch in der Luft, der eine solche Einsamkeit auf Joey niederstürzen ließ, daß sie auf dem Randstein saß und mit dem Kopf auf ihren feuchten Knien weinte. Nach einiger Zeit stand sie auf und versuchte, etwas von dem Wasser aus dem Dreimondteich aus ihren Jeans zu wringen, sah langsam in die
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