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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns
Autoren: Peter S. Beagle
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ihrem Rucksack und Abuelitas wenigen Habseligkeiten gesucht hatte, und daß Ko wütend seinen Bart beschimpfte, weil dem die Flucht der Shendi entgangen war. »Ich hätte es wissen müssen, daß sie bei Nacht umziehen! Je näher die Verschiebung, desto unruhiger und wandelbarer werden sie.« Dann
– ohne irgendeinen Übergang – saß sie gemeinsam mit Abuelita auf Touriqs Rücken, der bergauf durch dorniges, stinkendes Gebüsch stürmte, während Ko an seiner Seite blieb und mit seinen kurzen Ziegenbeinen riesige Sprünge machte. Joey rief Abuelita manches zu, doch ihre Großmutter zuckte nur mit den Achseln, deutete auf ihre Ohren und lächelte freundlich.
    Joey hatte den Dreimondteich bisher nur aus der Ferne gesehen, und zwar wegen ihres anhaltenden Unbehagens in Gesellschaft der Karkadanns. Der in Steine gebettete Teich in den Bergen schien für derart große Wesen viel zu klein zu sein, doch planschten und brüllten stets drei oder vier von ihnen in seinem grünen Wasser. In dieser Nacht jedoch lag der Tümpel leer und fahl im letzten Licht des untergehenden Mondes. Die Shendi waren nirgendwo zu sehen.
    »Sie sind hier, Tochter«, sagte Ko. »Mein Bart wird mich nicht noch mal im Stich lassen.« Joey rutschte von Touriq herunter und half ihrer Großmutter beim Absteigen. Sie standen da und hielten sich bei den Händen. Joey sagte: »Abuelita, das ist verrückt. Was um aller Welt soll ich meinen Eltern erzählen?«
    Abuelita wedelte lässig mit einer Hand. »Sag ihnen, ich wäre nach Las Perlas zurückgegangen. Seit Jahren habe ich ihnen damit gedroht.« Plötzlich war ihr Lächeln nicht mehr alt und gütig, sondern so jugendlich verschmitzt, daß Joeys Herz ihr direkt aus der Brust entgegenfliegen wollte. »Und weißt du was, Fina? Es stimmt sogar fast.«
    »Da ist die Grenze«, verkündete Touriq. »Ich hab’ es doch gesagt!«
    Mitten auf dem Dreimondteich bildete sich zitternd ein Vorhang pulsierender Farbe, wandelte das Wasser zu einem funkelnden Tumult von Monden. Joey gab sich Mühe, nicht hinzusehen. Verzweifelt hielt sie Abuelita fest, sagte: »Ich will dich hier nicht zurücklassen. Du wirst mir fehlen. Werde ich dir denn nicht fehlen? Ich und… und alle?«
    »Du wirst mir fehlen, Fina«, sagte Abuelita. »So wie mir dein Großvater fehlt. Aber du wirst hierher zurückkommen und mich besuchen, irgendwie, genau wie sonntags in Silver Pines, das kann er nicht. Der Rest…«, sie streckte eine Hand aus, mit der Handfläche nach unten, und wackelte zweiflerisch damit in der Luft herum. »Der Rest nicht so sehr.« Sie schloß Joey einmal in die Arme, kurz nur, und trat dann zurück, deutete auf die Grenze. »Geh, geh, du wirst deinen Bus verpassen. Oh«, und plötzlich hielt sie Joeys Handgelenk ganz fest, »sag Indigo… ach, bestell ihm einfach liebe Grüße.«
    »Indigo!« Noch einmal griff Joey nach Abuelita. »Indigo hat gesagt, ich soll dich fragen, wieso die Ältesten erblinden, aber ich hätte es fast vergessen. Er sagt, du weißt es.«
    »Ay, dieser Junge.« Abuelita schüttelte den Kopf, lachte ein wenig. »Es lag daran, daß er versucht hat, sein Horn gegen Geld zu verkaufen. Das darf er nicht, so sind sie nicht, so ist dieses Land nicht. Alles gerät durcheinander, löst sich auf, comprendes, verstehst du, Fina?«
    »Aber er hat es doch verkauft«, rief Joey. »Er ist der einzige, der einzige Älteste, der je sein Horn verkauft…«
    »Aber nicht aus Eigennutz.« Im Licht der Grenze schien das Gesicht ihrer Großmutter bedeutungsvoll zu pulsieren. »Es ist so, wie ich es dir gesagt habe. Der Wert liegt im Motiv. Geh jetzt, beeil dich. Ich liebe dich, Fina.«
    Die Grenze taumelte und tanzte über dem Dreimondteich. Joey sah ins Wasser, dann zu Touriq, der sie stolz aufforderte: »Auf meinen Rücken.« Ko stand schweigend bereit, um ihr hinaufzuhelfen. Joey beugte sich herab, um ihn zu umarmen, konnte selbst nichts mehr sagen. Der Satyr flüsterte: »Ich hatte doch recht, dich Tochter zu nennen, oder?« Joey konnte nur nicken.
    Touriq watete in den Teich hinaus, hob die Beine wie ein Paradepferd, bis ihm das Wasser bis zu den Sprunggelenken und Joeys Schuhen reichte. Sie beugte sich über seinen Hals, als sie sich der Grenze näherten und erklärte ihm immer und immer wieder: »Das ist nicht unser Lebewohl, ist es nicht, ich verspreche es, Touriq. Ich werde euch wiederfinden, und da ist es ganz egal, wohin sich die verdammte Grenze verschiebt. Ich werde Shei’rah wiederfinden. Ganz
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