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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers
Autoren: Werner Schneyder
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Und er fragte sich gleichzeitig, warum ihm der Begriff einfiel. War er ein schlechtes Gewissen nicht losgeworden? Aber er hatte doch kein schlechtes Gewissen. Wieso auch?
    »Erschrick nicht, aber meine Frau hat wieder was geschrieben. Es ist das Letzte, was sie schreiben kann. Sie liegt in der Klinik. Krebsklinik. Sie hat mir gesagt, ich soll dich bitten, das Manuskript selbst abzuholen. Mir gibt sie es nicht. Niemandem. Nur dir. Ich wollte es unbedingt haben. Ich hätte es drucken lassen. Im Eigenverlag. Damit ich es ihr in die Hand geben kann. Ich weiß, das ist jetzt wie der Muff aus der ›Bohème‹. Aber, wie gesagt, sie gibt es nur dir.« Er begann zu weinen. »Du darfst nicht erschrecken, wenn du sie siehst. Sie hat zwei Chemotherapien hinter sich. Sie ist schon ziemlich entstellt.«
    Als das Taxi am Tag darauf in die Nähe der Krebsklinik kam, kündigte der Barbesitzer an: »Es ist eine wunderschöne Klinik.« In der Tat, man hätte hier im Grüngürtel, angesichts einer großzügigen Architektur mit viel Weiß und hellem Blau viel eher an eine Rehabilitation als an den Tod denken wollen. Das muss eine Privatklinik sein, dachte der Jungverleger. Kann er sich das leisten? Und gleichzeitig schüttelte er tief innen den Kopf über seine Unfähigkeit, nicht realistisch zu denken.
    Im Gang vor dem Zimmer ließ der Barbesitzer den Jungverleger allein. Er wolle nur nachsehen, ob sie empfangsbereit sei. Der Jungverleger kam sich elend vor. Der Gang sah aus wie in den Ärzteserien im Fernsehen. Hie und da tauchte eine männliche oder weibliche Figur in medizinischer Kostümierung auf.
    Aber es ist selbstverständlich, dass ich ihm diesen Wunsch erfülle. Und wie auch immer dieser Text sein wird, ich werde lügen. Ich werde sagen, er ist wunderbar.
    Bei nächster Gelegenheit wird er gedruckt. Vor dieser Szenerie ist der Versuch literarischer Wahrheitsfindung doch kindisch. Geradezu blöd. Aber wie stark muss der Antrieb dieser Frau sein! Ich würde, wüsste ich, es geht zu Ende, doch nicht mehr schreiben. Wozu denn? Für wen?
    Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf.
    Über die Manusblätter meines Lebens rollt die Tinte Tod.
    Fang jetzt nicht auch an, Kitsch zu dichten, rief er sich zur Ordnung, du nicht auch noch!
    Der Barbesitzer kam heraus.
    »Sie freut sich. Und sie schämt sich nicht vor dir. Sie will die Perücke gar nicht aufsetzen.«
    In einem großen, hellen Raum stand ein einzelnes Bett. Darin saß, fast aufgerichtet, eine kahlköpfige Frau, dadurch auf eine seltsame Art schön, mit jenem leicht spöttischen Gesichtsausdruck, den der Jungverleger kannte. Der Zug um den Mund verriet, sie hielt sich unirritierbar für klüger und begabter als den Besucher.
    Der setzte sich in einen von zwei eleganten Fauteuils. Der Barbesitzer ging vor dem reichlich mit Blumen geschmückten Fenster auf und ab.
    Als sie sprach, hatte der Besucher Mühe, nicht zu erschrecken. Ihr war eine reine Artikulation nicht mehr möglich. Da drückte ein Tumor auf Nervenzentren.
    »Das ist sehr schön, dass Sie mich besuchen.«
    »Ich höre, Sie machen das Beste aus der Zeit bis zum Gesundwerden. Sie schreiben. Sie haben etwas fertig? Es freut mich besonders, dass Sie es mir anvertrauen wollen.«
    Der Spott in ihrem Gesicht war noch deutlicher da. Bezog er sich auf das »Gesundwerden« oder auf das »anvertrauen« ? Sie holte mit einiger körperlicher Mühe aus der Nachttischlade zwei dicke Notizbücher.
    »Alles mit der Hand geschrieben«, sagte sie. »Sie dürfen erst lesen, wenn Sie allein sind. Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Sie händigte die beiden Bände aus.
    Ihr Mann wollte das Thema wechseln. Er sprach von einer positiven Prognose des Chefarztes. Ihr Gesicht signalisierte: Ich möchte in Ruhe gelassen werden.
    Vor der Klinik trennten sich die Männer. Der Jungverleger wollte jetzt gleich und allein lesen. Er versprach seinem Freund, sich danach sofort zu melden.
    Er setzte sich in ein elendes Espresso schräg gegenüber und schlug gleichzeitig mit der Bestellung das erste Buch auf. Auf dessen erster Seite stand ein Datum, darunter das Wort
Kitsch
. Auf der nächsten Seite das Datum des darauf folgenden Tages. Darunter das Wort
Kitsch
. Hastig griff er zum zweiten Buch und schlug eine der letzten Seiten auf. Da stand wieder ein Datum und das Wort
Kitsch
.
    Der Jungverleger sah durch die dreckigen Fenster des Espressos zur Klinikfassade auf der anderen Straßenseite. Es fröstelte ihn. Diese Art der Rache war ihm unfassbar.
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